Text 25 – 2020

[ Die Suche nach Eden ]

Heute noch keine Sonne, merkte Noah, als er mit trüben Augen unter einer Abdeckplane herauskriecht. Graue Wolken unterdrückten die Stadt mit unheimlicher Stille, obwohl sie nicht mehr erkennbar war. Überall glitzerten und glänzten Wasserlachen, die zusammen einen groβen See machten, dessen kristallklare Oberfläche nur von den Trümmern der wie Maschinen aussehende Gebäude gestört wurde. Irgendwo zwitscherten einige Vögeln. Aber diese friedliche unterspülte Landschaft ähnelt gar nicht der Welt von gestern. Die Erde ist heute gesättigt, aber für wie lange? Die letzte Stille dauerte nur ein paar Tage. Noah streckte sich langsam. 

Es hat alles vor einigen Monaten angefangen. Der unendliche Regen und Wind haben die Welt überflutet und brachten unvorstellbares Chaos. Autos wurden untersagt, Fabriken geschlossen, Flüge storniert, und weltweit war die Menschheit zum Stillstand gekommen. Zu wenig, zu spät. Dann kam die Panik. Jeder Mensch entfloh den Städten um hohes Land zu finden. Damals hatten sie immer noch die Hoffnung, dass das Land sie retten könnte. Davon gab es aber zu wenig und die Natur würde uns sowieso nicht helfen, da es ihr unstillbarer Zorn war, der die Menschheit verwüstete, um ihren Schmutz und parasitische Zivilisation zu säubern. Und die Natur hat es geschafft. Alle waren Opfer und die Zahl der Überlebenden war nicht zu ahnen - die Welt sah so leer aus. 

Jetzt konnte die Natur sich heilen. Überall blühten Wasserpflanzen wie smaragdgrünen Sternbilder, die silbernen Fische knabberten bevor sie im Wasser verschwanden wie glänzendes Licht im All. Eine leichte Brise sorgte für einen Erdgeruch mit moosigen Untertönen – selbst die Luft schmeckte nach Neubeginn. Vögel flitzten zwischen den efeubedeckten Trümmern und starrten neugierig Noah an, er guckte aber aussichtslos auf seinen kaputten Handybildschirm. Natürlich funktionierte es nicht, dachte er, und auch wenn es nicht komplett kaputt wäre, würde er sicher kein Signal bekommen. Trotzdem konnte er das Handy nicht wegwerfen und steckte es in seine Tasche. Jetzt reichte das Wasser nur bis zu Noahs Taille und er konnte vorsichtig durch das stille Wasser laufen aber, als der Sturm noch nicht ermüdet war, hatte er sich wochenlang verzweifelt an ein klappriges Floβ geklammert. Dieses Floβ, auf dem die zusammengeklappte Abdeckplane lag, trieb eben hinter Noah während er langsam durch das Wasser tritt. Die Suche nach anderen Menschen war nicht erfolgreich. Er suchte jemand – irgendeinen Menschen – der die Flut überlebt hatte. Allein mit nur seinem unklaren Spiegelbild als Sprechpartner in dieser leeren Welt zu sein, dachte Noah wie ein Fisch weg flimmerte und ein lautes Gequake, das vielleicht ein Frosch oder auch fallender Schutt sein konnte, die Stille unterbrach, würde unerträglich sein. 

Er stapfte trübe und verbissen weiter in die Richtung einer Gruppe von Formen am Horizont – die Überbleibsel einer ehemaligen Stadt. Vielleicht konnte er dort Überlebende finden. Als Noah sich der Stadt näherte, erhöhte sich langsam der Wasserstand und er musste auf das Floβ klettern und weiter paddeln. Die Stadt türmte sich drohend wie ein schlafendes Ungeheuer, das die umgebenden Geräusche der Natur aus Angst vor dem Aufwachen zum Schweigen brachte. Ein verdrehtes gefährliches Gerüst ragte über Noahs Kopf, als sei es ein Skelett, und die Müllgerinnsel, die im trüben Wasser trieben, als ob sie Teil eines verfallenden Leibes wären. Plastiktüten und Kunststoffflaschen, zerrissene Kartons und unzählige unnötige Verpackung – aber dort! Eine Tüte Chips! Was für ein Glück, bis jetzt musste Noah von Schilfe und alten Müsliriegeln, obwohl diese schon vor ein paar Wochen alle waren, leben. Was er nicht alles geben würde, um nochmal einen fetten Burger zu essen. Noah sah aber keine Lebenszeichen. Er segelte weiter und die Trümmer blieben grau und der Himmel verdunkelte sich, aber ganz weit in der Ferne konnte er etwas Buntes sehen. Als er sich der Farbe näherte erkannte er mit Enttäuschung, dass es nur verwischtes Graffiti war. „Wir gehen…Eden…Finden…Weg.” Noah blickte verwirrt ein paar Sekunden lang mit aufgerissenen Augen bis er das wirklich verstehen konnte – es gab andere Menschen! Sein lauter Jubel erklang in der Stadt und das Floβ kippte vor Freude fast um. Endlich war Noah nicht allein. Aber wie konnte er sie finden? Wo war Eden? Noah setzte sich wieder besonnen in das Floβ genau als ein schweres Grollen des nahenden Gewitters die Luft zerriss. Er musste los. Wenn er nicht bald aus der Stadt fliehen würde, konnte der Sturm ihn inmitten des fallenden Schuttes ganz leicht schlucken. Er paddelte mit panischer Angst und dachte nur daran, in Sicherheit zu kommen bevor er von dem Gewitter gefangen würde. „Verschwinde, verschwinde,“ tuschelte warnend der Wind, obwohl Noah nicht schneller rudern konnte. Gerade als die ersten Regentropfen auf seine schon schwitzende Stirn träufelten, entdeckte er einen standhaften Baum und, obwohl der Wind jetzt mit wütendem Heulen gegen ihn kämpfte, erreichte er mit Glück und seiner angespannten Muskeln die Sicherheit des Stamms.

Sonnenlichtstrahlen glitzerten durch die Blätter des Baums, der mit zwitschernden Vögeln beladen war, und wärmten Noahs schlafendes Gesicht. Langsam öffnete er die Augen. Die Welt sah komplett anders aus; wo gestern rachsüchtige Wolken stürmten und der Blitz Risse durch die Luft peitschte, war heute der Himmel ein ruhiges Blau und die Sonne tanzte fröhlich über die Oberfläche des Sees wie wunderschöne Libellen. Noah schüttelte den Kopf, verängstigte die Vögel, die ihn nervten, schaute einmal auf den Handybildschirm – natürlich nichts – und fing an durch das Treibgut zu wühlen. Er fand eine Garnspule, die er auf das Floβ wickelte, um es ein bisschen zu reparieren, ein Holzbrett, das er als Ruder nutzen könnte, und eine Apfelsaftflasche. Aber als Noah die Flasche aufmachte, fand er keinen Saft, sondern ein Blatt Papier. Einiges war durchgestrichen und schwer zu lesen aber auf dem Papier stand: 

Und Gott der HERR MUTTER Natur pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen und setzte den Menschen hinein, den er sie gemacht hatte. Und Gott der HERR MUTTER Natur ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, lustig anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und es ging aus von Eden ein Strom, zu wässern den Garten, und er teilte sich von da in vier Hauptwasser.

Und mit kaum leserlicher Schrift war am Ende gekritzelt worden: 

Wer sich dem Vertrauens der Natur würdig zeigt, wird nach Eden zurückkommen. 

Noah konnte es fast nicht glauben – das musste ein Brief von anderen Überlebenden sein. Und wenn es ‚gegen Morgen‘ war, musste es im Osten liegen. Endlich wurde er andere Menschen finden. Mit erneutem Elan sammelte Noah seine wenigen Dinge und machte sich auf den Weg nach Eden. Der von Sonne umgebene Baum, der ihn geschützt hatte, blieb zurück. Unter seinen Füβen lagen Jahrhunderte von Vernachlässigung und Missbrauch, die das reinigende Meer auf einem Mal von der Erde verwischt hatte.

Aber Noah dachte nicht daran, was unter der Oberfläche lag, sondern er trat langsam durch das Wasser und versuchte die knackenden Geräusche, die manchmal unter seinen schweren Stiefeln hörbar waren, zu ignorieren.

 Er würde nie wissen, dass er schon in Eden war.

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