Text 01 – 2024

[ Am Rande der Realität ]

Ich würde dies kaum als eine Leistung bezeichnen. Das ist genau das, was sie wollten, dass wir denken. Ich rümpfe meine Nase über die hell leuchtenden Werbungen, die mir ins Gesicht geschoben werden. Mein vollkommen fehlerhaftes Gesicht. Alle Lachfältchen, schiefe Zähne und Poren. Ich schaue mir die Sommersprossen an, die ich immer genau unter die Lupe genommen habe, und ich lächle. Tief und breit. Ich sehe in ihnen die Sterne, die über dem heiteren Nachthimmel flimmern. Urwüchsig und wunderschön. Wenigstens rümpft sich meine Nase, wenn ich mein Gesicht verziehe. Es ist ein Schimmer der Realität, den mir niemand wegnehmen kann.

Nichtsdestotrotz haben sie mich richtig blind gemacht. Unscharf wurde die Welt in und um mich herum. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, wann diese digital konstruierte Realität mehr zur Normalität wurde als die Realität selbst. Ich erzähle immer meinen Freunden, dass sie die neueste Droge des 21. Jahrhunderts ist, aber es ist wie ein Schrei ins Leere. Die Welt wird immer von der Idee der ,,Perfektion“ berauscht sein. Sie sagen, Lotte was ist los? Du hast immer noch deine Persönlichkeit aber sieh nur, wie selbstbewusst du bist! Kann niemand erkennen, dass wir uns selbst verlieren? Ehrlich gesagt habe ich nie an Gott geglaubt, aber wir sind hier auf der natürlichen Erde mit alle unseren schönen Authentizitäten und Unterschieden und wir sollten das ehren. Ich bin weder verrückt noch eine Philosophin. Sicher kann jeder sehen, dass dies kaum einen Sinn für Selbstliebe, Wahrheit oder Eigenheit fördert.

Der Tag, an dem ich sie in meinen Händen zerdrückte, war der Tag, an dem ich wieder zu leben begann. Ich war im Tiergarten, wo eine Kaskade lebendiger Farben und Formen mich umgab und die Vögel sangen ihre süßen Sommermelodien. Nichts Neues. Das Gras unter mir leuchtete fast wie eine Lumineszenz. Ich saß und beobachtete die Halme, die sich im Wind wiegten. Ich zählte den Rhythmus. Hin und her. Wieder und wieder. Es hat mich gestört. Zum ersten Mal hat es mich gestört. Ich erinnere mich, wie ich auf meine perfekt manikürten Hände und Arme hinunterblickte und ihre Form mit meinen Fingern nachzeichnete. Eine Erinnerung an den Kindergarten fiel mir ein. Ich erinnere mich, dass ich so hoch geschwungen bin. So hoch, dass ich dachte, ich würde fliegen. Marie lief um mich herum. Das gelbe Kleid, das sie immer trug, wirbelte im Wind. Sie hat mich so sehr zum Lachen gebracht, dass ich auf dem Boden aufgeschlagen bin, was diese schicksalhafte Narbe hinterlassen hat. Wann habe ich sie das letzte Mal gesehen? Wie lange habe ich schon in dieser Airbrush-Existenz gelebt? Ich war über diese Erkenntnis so schockiert, dass diese kleinen glatten Kontakt-Linsen die Macht hatten, meinen Sinn für die Realität und sogar meine eigenen Erinnerungen zu prägen. Alles augmentierte. Meine Identität. Die Welt um mich herum. Das Gras glitzerte mich an, als würde es mir zuzwinkern. Das Zerstören der Linsen hat sich noch nie so furchtbar befreiend angefühlt. Aber die Befreiung hat einen Preis. Was passiert als Nächstes in einer Welt, in der meine natürliche Erscheinung eine Anomalie ist und meine Realität ein Anblick, die niemand weder hören noch sehen will. Was kann ich jetzt tun?

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