Text 15 – 2024

Dankbar ]

Ich kann mir eine Welt nicht vorstellen,

in der man jemanden nicht erkennen könnte.

Stellen Sie sich vor, dass Sie Ihr eigenes Kind ansehen,

und denken:

„Ich kenne dich… glaube ich?“

Ich kann mir eine Welt nicht vorstellen,

in der man keine Macht hat,

nur beobachten kann,

wie jemand verschwindet.

Ich kann mir eine Welt nicht vorstellen,

in der es eine ständige Unsicherheit gibt,

als ob es einen Zeitschalter gäbe:

Tick,

Tick,

Tick,

Zeit ist abgelaufen.

Ich kann mir eine Welt nicht vorstellen,

in der ich meine Oma anschaue,

die sich nicht erinnern kann, wer jemand ist,

ihre Kinder,

ihre Enkelkinder,

wer sie selbst ist.

Ich kann mir eine Welt nicht vorstellen,

in der meine Oma kein herzliches Lächeln hat,

nur Augen, die nach Erkennung suchen.

Warum erkennt sie mich nicht?

Ich kann mir eine Welt nicht vorstellen,

in der sie mich verwirrt anschaut,

frustriert über diese Fremde,

die sie Dinge fragt,

von denen sie nie gehört hat.

Ich kann mir eine Welt nicht vorstellen,

in der es nur manche Tage gibt,

an denen sie lächelt,

als ob sie weiß, wer ich bin.

Nur für einen Moment.

Ich kann mir eine Welt nicht vorstellen,

in der dieser Moment verblasst

und das Licht verschwindet.

Oma ist wieder weg,

vielleicht nächstes Mal.

Ich kann mir eine Welt nicht vorstellen,

in der ich fühle,

als ob ich meine Oma verloren hätte,

obwohl sie noch am Leben ist.

In der Schule haben wir über den Tag der Entdeckung gelernt. Alois Alzheimer, München, 1906. Es ist ein bisschen komisch, dass der Mann, der die Krankheit entdeckt hat, 50 Jahren lang vergessen wurde. Die ganze Welt als ein Opfer seiner eigenen Entdeckung. Aber dann wurde die Welt immer älter und die Menschen lebten länger und damit auch die Alzheimerkrankheit. Sie wurde nicht mehr vergessen. Wer hätte gedacht, sie würde zu einer globalen Gesundheitskrise werden? Eine Krankheit, die altert, genau wie wir. Je älter wir werden, desto vergesslicher werden wir. Aber mit dem Alter zu vergessen ist normal, oder? Genau… aber dies ist mehr als nur Vergesslichkeit und deshalb hat man sehr lange versucht, ein Heilmittel zu finden.

Vor 20 Jahren fanden sie ein Heilmittel. Die Leute fragten nicht mehr, wie sie mit dieser Krankheit leben sollten, sondern wie die Menschen es geschafft hatten, damit zu leben? Ich lese Artikel und Berichte über das Leben mit Alzheimer und ehrlich gesagt, habe ich auch keine Ahnung. Muttis Oma hatte diese Krankheit, deshalb weiß Mutti alles darüber. Sie erzählt mir, dass es sich für sie anfühlte, als ob sie sie verloren hätte. Nicht körperlich, aber geistig. Ich kann mir das nicht vorstellen.

Vor drei Jahren begann meine Oma in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Am Anfang hat sie nur kleine Sachen vergessen, beispielsweise was in der vorherigen Woche passiert war, oder dass ihre Freundin zum Mittagessen kam. Wir suchten den Arzt auf und er untersuchte sie, er diagnostizierte, und sie begann mit der Behandlung. Einfach. Es ist, als ob sie die Krankheit nie gehabt hätte.

Wir besuchen sie jedes zweite Wochenende und manchmal erzählen sie und Mutti Geschichten über Uroma. Sie sprechen oft über ihr Leben und ihre Leistungen, aber auch, wie alles sich verändert hat, als sie krank wurde. Ich weiß, dass Mutti sich insgeheim wünscht, dass man früher ein Heilmittel gefunden hätte, sodass ihre Oma nicht verschwunden wäre. Aber ich kann in ihren Augen sehen, wie unendlich dankbar sie ist, dass ein Heilmittel gefunden wurde, weil sie nicht auch noch ihre Mutti verlieren muss. Wir können immer noch hier sitzen und diese Gespräche mit Oma haben, wir können sie immer noch anrufen, um sie über unser Leben zu informieren, und sie kann immer noch ausgehen und ihre Freunde treffen – sie kann ihr Leben weiterleben. Ich schätze dies alles sehr.

Obwohl ich kein Leben ohne dieses Heilmittel kenne, werde ich dennoch immer dankbar für diese Entdeckung sein. Es ist schön zu wissen, dass niemand sie jemals vergessen wird, aber es ist auch schön zu wissen, dass niemand mich vergessen wird. Dies ist eine Welt, die Mutti sich nur vorstellen konnte, als sie jünger war. Ich kann mir das nicht vorstellen.

2 thoughts on “Text 15 – 2024”

  1. An amazing piece of text, so heartfelt that will be so familiar with so many people, really moving words.

  2. What a beautiful piece! I have tears in my eyes. You deserve to win this.
    Bonne chance!

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