[ Die Biogeige ]
Er hatte schon lange keinen blauen Himmel mehr gesehen. Auch in der Stadt gab es nicht mehr viele Farben, nur das Grau von Zigarettenrauch und Autoabgasen. Und es war so heiß. Die Passanten trugen Gesichtsmasken, um keine giftigen Dämpfe einzuatmen. Mittlerweile saß er auf dem Gehsteig und spielte Gitarre. Gelegentlich warf ihm jemand eine Münze in seinen Gitarrenkoffer.
In diesem Moment kam eine neue Münze, aber sie erschien etwas anderes zu sein: ein winziger Samen, der nicht in den Gitarrenkoffer fiel, sondern durch die Luft tanzte und im Schallloch der Gitarre verschwand. Schlagartig veränderte sich der Klang und er spürte einen kalten Luftstrom an seinen Händen während er spielte. Nach einer Weile bemerkte er auch, dass die Luft um ihn herum, die bisher rauchig und verschmutzt war, langsam klarer wurde. Man konnte es leicht sehen: Ein Wirbel sauberer Luft stieg aus der Gitarre auf. Er schaute auf, erstaunt, aber keiner der ausdruckslosen Passanten auf der Straße hatte dies bemerkt.
Neugierig klimperte er wieder auf der Gitarre und lenkte die Luft mit seiner Hand in die staubige Wasserschüssel seines Hundes. Und tatsächlich wirbelte die Gitarrenluft in der Schüssel herum, bis das Wasser klar wurde. Erst dann bemerkte er zwischen seinen Gitarrensaiten ein grünes Blatt. Er zog es heraus und sah es an: es gehörte zu einem sonderbaren Samen. Vorsichtig wickelte er ihn in eine Serviette ein und fuhr fort, seine Gitarre auf der Straße zu spielen.
Später in der Nacht fand er auf dem Boden einen Joghurtbecher (man liebte es hier, Abfall zu hinterlassen) und er schaufelte etwas Erde für den Samen und etwas Wasser hinein. Dieser behelfsmäßige Blumentopf stand nun jeden Tag unter seiner Gitarre während er spielte und innerhalb einer Woche wuchs eine komische Pflanze daraus. Sie sah aus wie ein Baum, da sie aus einem dunklen und starken Holz bestand. Aber sie war gar nicht wie ein Baum geformt. Sie war ein enges Trapez mit einer breiten Basis. Die Vorderseite war nach innen gewölbt und von oben nach unten gab es fünf lindgrüne Stängel. Um diese Struktur war ein Holzring gewickelt, der untrennbar mit ihr verbunden war. Auf dem Ring sah man eine kleine rosa Blüte.
Nach einer weiteren Woche war die Struktur weiter nach oben gewachsen, damit ihre Basis nicht mehr die Erde berührte. Sie waren nur durch einen dürftigen Zweig verbunden. Als er die Pflanze hielt, um die Erde zu gießen, knickte der Zweig plötzlich ab. Daher wurde die Pflanze vollständig von der Erde getrennt. Er keuchte. Ist sie abgebrochen und jetzt tot? Nein, die Pflanze lebte noch und ihre Basis, die zunächst uneben war, wurde schnell glatt. Das Holz fühlte sich nicht an wie die raue Rinde eines Baumes, sondern wie ein verstärktes, poliertes Material. Als er diesen sonderbaren Gegenstand ansah, streifte er unabsichtlich mit seiner Hand einen grünen Stängel. Es erklang eine tiefe Musiknote. Der Ton war einzigartig und dennoch erkannte er, dass es derselbe Ton war, den er vor ein paar Wochen gehört hatte. Derselbe Klang, den seine Gitarre gemacht hatte, nachdem der Samen in sie hinein geflogen war. Es war also keine Pflanze: Es war ein Musikinstrument!
Und tatsächlich musste der Holzring eine Art Bogen sein. Das Ganze war eine merkwürdige Art von Geige. Er strich den Bogen behutsam über die Stängel und es erklang ein traumhafter Akkord. Obwohl er Gitarrist und kein Geiger war, erkannte er, dass das keine Rolle spielte. Er konnte trotzdem einen schönen Klang erzeugen. Genauso wie es bei der Gitarre mit dem Samen passiert war, erzeugte dieses Instrument mit jeder Note einen frischen Luftzug, der die schmutzige Umgebungsluft reinigte. Er spielte daher weiter.
Nach einem Jahr hatte er dank seiner Biogeige ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum Schlafen. Mit Auftritten auf der Straße und in Kneipen hatte er genug Geld verdient, um sich eine bescheidene Wohnung leisten zu können. Außerdem waren die Stadtstraßen spürbar sauberer und immer weniger Menschen trugen diese schrecklichen Gesichtsmasken. Die meisten ließen jetzt ihr Auto zu Hause und stiegen stattdessen auf ihr Fahrrad. Sie wurden von der gesunden Luft inspiriert.
Eines Abends, nach einem Auftritt in einer Kneipe, kam eine Frau auf ihn zu. Diese Frau interessierte sich sehr für die Biogeige. Sie sagte, dass sie Umwelt-Biochemikerin sei und dass sie gesehen habe, wie er auf der Straße im Freien auf seiner Biogeige spielte und wie dieses Instrument einen verschmutzten Ort in einen saubereren verwandeln konnte. Sie wollte die Geige in ihrem Labor untersuchen und er willigte ein. Nach ein paar Tests sah sie das Instrument ungläubig an. Obwohl die Pflanze seit über einem Jahr von der Erde im Blumentopf getrennt war, war sie immer noch völlig lebendig. Wenn man die Stängel, die als Saiten fungierten, berührte, durchlief die Pflanze einen Prozess, der ähnlich wie die Photosynthese war. Sie verwendete Kohlendioxid und Musik als Brennstoff, um Sauerstoff zu produzieren. Und noch eine weitere Entdeckung: Beim Spielen dieses Instruments entstand ein neues chemisches Element, das „Melodium“ genannt wurde. Dieses Element hatte die Fähigkeit, schädliche Gase zu eliminieren. Deshalb war die Stadtverschmutzung verschwunden.
„Ich fasse es nicht“, sagte die Wissenschaftlerin. „Wenn man die Biogeige spielt, wirkt es den schädlichen Auswirkungen von mehreren Gasen entgegen, besonders Kohlendioxid, Lachgas und Methan. Das heißt, die Gase, die derzeit unseren Planeten erwärmen. Dieses seltsame Instrument könnte die Erde retten!“.
Der Biogeiger dachte genauso. Aber sie brauchten mehr von dieser Art. Die Wissenschaftlerin entnahm der rosa Blume des Bogens einige Samen und pflanzte sie ein. Sechs Biogeigen wurden so gezüchtet. Sie bestanden alle aus demselben geheimnisvollen dunklen Holz, aber jede hatte eine einzigartige Blume. Seitdem der Biogeiger seine Musikkarriere begonnen hatte, hatte er viele reisende Musiker kennengelernt. Er nahm Kontakt zu ihnen auf, um ihnen die neuen Instrumente zu geben. Jeder reiste auf einen anderen Kontinent, damit der Sauerstoff und das Melodium sich gleichmäßig über die Erdatmosphäre verteilen konnten. Die Wissenschaftlerin kannte einen Elektroingenieur, der sich bereit erklärte, einen Biogeigelautsprecher zu entwickeln. Wenn man nämlich den Klang verstärkte, produzierte die Biogeige noch mehr Sauerstoff und Melodienstoff. Bald schon war das schöne Spiel der Biogeige in der ganzen Welt zu hören.
Kurz danach wurde dieses Projekt von einer Raumfahrtagentur entdeckt. Von ihrer Raumstation aus konnte man schon die positiven Auswirkungen auf das Klima sehen. Die Mannschaft lud den Biogeiger und die Wissenschaftlerin auf die Raumstation ein, um sich selbst ein Bild zu machen. Zu ihrer Freude konnten sie tatsächlich die Luft der Biogeige sehen, als sie in die Atmosphäre herum wirbelte und mit den Treibhausgasen reagierte.
„Ja, es ist ein echtes Wunder“, sagte einer der Astronauten, nachdem er ihre hypnotisierten Gesichter bemerkte. „Ihr geheimnisvolles Instrument hat schon über die Hälfte der Auswirkungen der Klimawandels rückgängig gemacht.“ Die Atmosphäre ist deutlich sauberer als früher. Die Temperaturen gehen wieder auf ein sicheres Niveau zurück. Der Meeresspiegel wird auch wieder normal und die Eiskappen fangen an, zu gefrieren. Wir haben Naturkatastrophen vermeiden können, die für dieses Jahr vorausgesagt wurden. „Unser Planet heilt!“
In diesem Augenblick erreichten die ersten Biogeigennoten die weit entfernte Andromeda-Galaxie. Ein Außerirdischer des Sternensystems Alpheratz hörte sie und holte sofort sein überlichtschnelles Teleskop, um die Quelle dieser seltsamen Harmonien zu finden. In der Milchstraße, im Sonnensystem, auf dem Planeten Erde. Es war viele Jahre her, seitdem er diesen Planeten durch sein Teleskop besucht hatte. In Alpheratz hatte man ihm den Spitznamen „Müllplanet“ gegeben, weil die Menschen ihn seit Jahrhunderten zerstört hatten. Aber jetzt bemerkte er, wie viel sauberer die Erdatmosphäre war: Er konnte endlich die komplizierten Einzelheiten der Länder und Küstenlinien beobachten. Bisher wusste er nicht einmal, dass die Erde eigentlich grün und blau war. Er lachte verwundert. „Sie haben es wirklich getan. Sie haben den Müllplaneten gerettet!“