Text 02 – 2024

[ Manche Dinge, bleiben besser vergessen ]

Mittwoch, 05.06.2024

Ich würde alles dafür geben, wieder zurück in meine gemütliche und angenehm temperierte Bibliothek zu können. Seit ich hier auf der Grabungsstätte mitten im Nirgendwo zwischen Cork und Kerry bin, ist das Wetter schwül. Es schauert fast jeden Tag und die Mücken fressen mich auf. Die anderen sagen, sie hätten noch nie einen so schönen Sommer zum Graben gehabt. Ich frage mich zum wiederholten Mal, warum ich mich bereiterklärt habe, mitzumachen. Natürlich war ich wie fast alle Historiker in Irland Feuer und Flamme als Nachrichten die Runde machten, dass man ein altes, noch unberührtes Hügelgrab am Rande einer abgelegenen Farm gefunden hatte. Noch dazu schien es eines der ältesten jemals gefundenen zu sein. Schnell wurde ein Grabungsteam gebildet; gerade sind wir zu sechst. Mein Fachgebiet ist frühkeltische Geschichte und Schrift, normalerweise verlasse ich mein Büro und die Bibliothek nur, wenn ich Vorlesungen gebe. Die letzte Grabung habe ich zur Studienzeit absolviert. Hier bin ich nur, um bei der Übersetzung und Analyse eventueller Artefakte zu helfen. Nicht, dass wir bis jetzt viel gefunden hätten. Seit Tagen buddeln wir um den Hügel alles um. Erst gestern haben wir den Eingang gefunden. Nur um festzustellen, dass die Decke eingebrochen war und wir einen Durchgang freischaufeln mussten. Wir wechselten uns ab, um im kühlen Gang eine Pause zu machen und nicht ständig in der sengenden Hitze zu sein. Hoffentlich finden wir bald ein paar anständige Artefakte, wenn ich noch einen Eimer Dreck durchsieben muss, werde ich verrückt.

Freitag, 07.06.2024

Der Morgen begann wie jeder andere, ich hatte die erste Schicht unter dem Zelt und durchsiebte eimerweise Sand und Dreck aus der nahen Umgebung des Hügels. Bis auf ein paar Tonscherben war wieder nichts Interessantes dabei. Immerhin teilte ich mir meine Schicht mit Aoife, sie war unsere Grabungsspezialistin. Niemand hatte mehr Zeit auf Ausgrabungen auf der ganzen Welt verbracht. Sie organisierte hier vor Ort den Ablauf aller Tätigkeiten. Niemand kannte sich besser mit physischen Artefakten aus und wusste so viel wie sie. Aidan, unser Teamleiter und Geologe, und Claire, Spezialistin für keltische Religion und Rituale, hatten die erste Schicht im Gang und schleppten Steine und Eimer voller Schutt hinaus. Cian, der jüngste von uns und Techniker des Teams, hatte die gnädige Aufgabe bekommen, in den nächsten Ort zu fahren und Frühstück sowie Material zum Stützen des Tunnels zu besorgen. Er war für die Computeranalyse der Artefakte zuständig und war der Einzige, der wusste, wie man Bodenradar und Lidar richtig bediente. Nach einem langen harten Tag waren wir uns nun am Abend sicher, dass wir morgen zur Grabkammer vorstoßen würden. Die Stimmung war dementsprechend ausgelassen und obwohl er in der Hinsicht etwas verklemmt war, erlaubte uns Aidan Drinks zur Feier des Tages.

Samstag, 08.06.2024

Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll. Es ist zu viel, zu schnell, in zu kurzer Zeit passiert. Heute ist uns endlich der Durchbruch gelungen. Aidan und Cian hatten die Schicht im Tunnel als auf einmal großes Geschrei ertönte und wir anderen so schnell wir konnten zu ihnen liefen. Alle drängten sich um das schmale Loch in der Wand und drängelten, um einen möglichst guten Blick auf den Raum dahinter werfen zu können. Aidan war schon dabei, Anweisungen zu geben. Cian wurde losgeschickt, um das Bodenradar und die Geräte für die 3D-Analyse zu besorgen, während er selbst fleißig Proben sammelte. Aoife wurde mit dem Stützen der Decke beauftragt und Claire und ich sollten den Gang freiräumen, bis der Durchgang groß genug war, dass ein Mensch die Grabkammer betreten konnte. Der Vormittag verging wie im Flug und am frühen Nachmittag standen wir endlich in der Kammer. Ein Moment, den ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde. Einen Moment waren wir alle still und sprachlos, versuchten alles in uns aufzunehmen, den Anblick nicht zu vergessen. Doch da überkam mich ein furchtbares Gefühl und ich wollte nur wegrennen. Alle gingen bis zum Abend ihren Aufgaben nach, trugen Artefakte, die ich noch nie gesehen hatte zur Analyse aus dem Raum, nahmen Proben und machten Fotos. Wir hatten ein frühkeltisches Grab vermutet, aber je mehr wir den Raum erkundeten desto unsicherer wurden wir. Die Artefakte waren zu alt, sehr zu Claires und Aoifes Verwunderung, das gleiche galt für den Sarg und die Schrift trieb mich in den Wahnsinn: Es war nichts, was ich jemals zuvor gesehen hatte. Es erinnerte nicht im Entferntesten an das Frühkeltische, das wir erwartet hatten, nicht an das Germanische oder an Runen oder an irgend etwas anderes. Auch ich fotografierte die Schrift an der Wand aus jedem Winkel. Morgen werde ich dem Geheimnis dieser Sprache auf den Grund gehen.

Sonntag, 09.06.2024

Anstatt die Geheimnisse der Grabkammer zu lösen, gibt sie uns heute nur mehr Rätsel auf als gestern. Ich versuche, die Kammer nach Kräften zu meiden. Ich bekomme ein furchtbares Gefühl, immer, wenn ich mich ihr nähern muss. Ich stütze meine Recherche zum Großteil auf die Bilder, die ich und die anderen gestern gemacht haben, und bleibe lieber draußen unter dem Zelt sitzen. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass wir einen großen Fehler gemacht haben und etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Nichts ist so wie erwartet und mein Gefühl sagt mir, dass etwas mit diesem Ort nicht stimmt. Doch die anderen wollen davon nichts wissen. Aidan ist regelrecht besessen von der Kammer, kommt fast gar nicht mehr raus. Claire und Aoife sind mit dem Sarg ins nächste Krankenhaus gefahren, um Röntgenaufnahmen machen zu lassen. Sehr zu unserer Verwunderung ist es ein weiblicher Körper, kein männlicher. Cian hat bei der Radaranalyse ein weiteres Skelett unter dem Sarg gefunden und morgen wollen die anderen auch dieses freilegen.

Mittwoch, 12.06.2024

Die Ereignisse der letzten Tage haben sich überschlagen. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll, was am schlimmsten ist. Die gute Nachricht ist: Ich habe die Schrift entziffern und übersetzen können. Die schlechte Nachricht: Es war eine Warnung, die wir besser hätten ernst nehmen sollen, aber sie lieber ignorierten. Mit fatalen Folgen. Alles begann damit, dass die anderen das zweite Skelett freilegten. Es erinnerte mehr an einen Saurier als allem anderen, nur eines von vielen Rätseln. Claire vermutete eine Kultstätte zur Huldigung des, was auch immer es war. Aidan wurde immer unruhiger, trieb die anderen an länger und schneller zu arbeiten, wurde beinahe fanatisch. Danach entschlüsselte ich die Warnung über einen uralten Fluch und das nichts und niemand die Kammer verlassen durfte oder fatale Folgen drohen würden. Leider waren die Anweisungen ungenau und die anderen wollten nicht zuhören. Bis wir Aidan heute in der Kammer fanden, blutüberströmt und ein fanatisches Lachen auf den Lippen. Wir versorgten ihn so gut es ging, allerdings wurde er so wahnsinnig, dass wir ihn notgedrungen in einen Stall auf der nahegelegenen Farm sperren mussten, da er drohte uns alle zu töten, sollten wir ihn nicht zurück in die Kammer lassen. Bis wir eine Lösung finden, versuchen wir alles geheim zu halten, zum Glück interessiert sich niemand für Archäologie.

Freitag, 14.06.2024

Aidan ist entkommen. Tagelang war es uns gelungen ihn versteckt zu halten, doch letzte Nacht ist er entkommen und mit ihm gelangen alle Informationen über die Grabung und den Fluch an die Öffentlichkeit. Damit auch das größte der vielen Unglücke der letzten Tage: Bei seiner Flucht tötete Aidan Cian mit einem der Messer aus der Grabkammer. Der Anblick hatte sich für immer in meinem Gehirn eingebrannt; die Panik auf dem Gesicht des jungen Mannes und das Messer in seinem Herz. Niemand wusste, wie Aidan hatte entkommen können, die Tür war zu Fetzen gerissen und niemand sah ihn je wieder und mit ihm einen guten Teil der Artefakte aus der Kammer. Doch seit diesem Tag gingen Berichte von seltsamen Dingen auf der ganzen Welt durch die Nachrichten. Menschen mit seltsamen Kräften und Fähigkeiten und noch seltsamere Todesfälle.

Sonntag, 25.09.2028

Heute fiel mir dieses Tagebuch in die Hände. In der Folgezeit der Entdeckung gingen meine Aufzeichnungen unter. Wenn ich heute auf die letzten Jahre zurückblicke und diese Seiten lese, möchte ich nur in die Welt schreien, was ich schon damals dachte: Lasst begraben, was nicht gefunden werde sollte! Damals hat niemand auf mich gehört; heute müssen wir mit den Konsequenzen leben…besser gesagt, diejenigen die noch hier sind, müssen damit leben. Cian und Claire haben wir schon verloren, mit Aoife habe ich keinen Kontakt mehr und Aidan ist eine ganz andere Geschichte. In den ersten Jahren wurde ich von Schuldgefühlen und „was wäre, wenn?“ Szenarien geplagt, ja fast in den Wahnsinn getrieben. Mittlerweile weiß ich, ich hätte nichts tun können. Hätten wir das Grab nicht gefunden, dann andere. Wenn mir die letzten Jahre etwas gezeigt haben, dann eines: Wir Menschen werden uns eines Tages selbst zerstören, vielleicht morgen, vielleicht in einem Jahr oder einem Jahrzehnt. Aber irgendwie schaffen wir es trotzdem immer wieder, dem Schicksal von der Schippe zu springen. Eine globale Pandemie, mehrere beinahe Weltkriege, die Klimakrise und wer weiß wie viele Wirtschaftskrisen, der Fluch ist nur eines: Die nächste große Errungenschaft der Menschheit. Es ist an uns, die wir noch hier sind, weiterzumachen und hoffentlich stärker aus dieser nächsten Krise zu gehen.

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