Text 12 – 2020

[ Murmelkinder ]

Jedes Mal, wenn ein Kind geboren wird, greift eine Hand in eine ganz tiefe Tasche. Dort liegen alle Kinder, die einmal geboren werden könnten. Alle auf einmal schreien sie vergnügt: „Ich, ich! Nimm mich!“ Aber die Hand bleibt gegnüber der Kakophonie taub. Sprachlos, blind und wahllos nimmt sie eines, als ob es eine von vielen Murmeln in einer Tüte wäre. 

Murmelkinder.

Erlaube mir, keines zu nehmen.

Ich will nicht, dass es sieht, wenn es den Sandstrand nicht sehen kann.
Ich will nicht, dass es hört, wenn kein Vogel für ihn singen wird.
Ich will nicht, dass es lacht, wenn andere Kinder nicht mit ihm lachen.
Ich will nicht, dass es riecht, wenn alles, was es zu riechen gibt, verschmutzt ist.
Ich will nicht, dass es hört, wenn die Luft mit Schreien erfüllt ist.
Ich will nicht, dass es liebt, wenn das, was es liebt von Geld vernichtet wird.
Ich will nicht, dass es nachts nicht schlafen kann, da sein Schuldgefühl zu stark ist.
Ich will nicht, dass es träumt, wenn tagsüber ein Alptraum ist.
Ich will nicht, dass es fühlt, wenn alles, was es zu fühlen gibt, Angst ist. 

Ich will nicht, dass du lebst, wenn es heisst, dass andere sterben müssen.

Ich flehe dich an, erlaube mir, keines zu nehmen.
Keinen will ich zu diesem Schicksal verurteilen. Ich habe schon genug Leid zugefügt.

Und die Kinder in der Murmeltüte weinten.

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