[ Immer wieder freitags ]
Es war Freitagnachmittag und ich war bereit.
Ich war ein Wissenschaftler. Das bedeutete, ich hatte den wichtigen Auftrag, die Umgebung zu erkunden und lebenswichtige Ressourcen zu finden. Die Zukunft unserer Gesellschaft lag in meinen Händen. Na, die Zukunft unserer Mägen zumindest, weil es meine Aufgabe war, Beeren zu sammeln.
Wir hatten gerade für unser Mittagessen alle unsere Vorräte verbraucht, einen Gemüseauflauf, den Nils Mutter gebacken hatte. Davor hatte ich meine Patrouille abgeschlossen – jeder musste eine machen, um uns gegen Feinde zu schützen. Aber jetzt fing meine Mission wirklich an. Der Tag war schön – keine Wolken am Himmel, warm, aber nicht zu heiß.
„Guten Tag, meine Mitbürger“, sagte Doland mit herablassender Stimme. „Als Präsident kann ich mit großer Freude ankündigen, dass wir endlich vorbereitet sind, unsere modernen Häuser zu bauen. Machen wir dieses Land großartig!“
Ich tauschte einen Blick mit Gerda aus. Doland war immer der König, der Kapitän, der Führer. Es hatte zuvor Sinn gemacht, als wir im Hinterhof seines Hauses gespielt hatten. Heute jedoch bauten sie dort gerade ein Schwimmbecken, deswegen spielten wir in einem Gemeindepark. Seine Rolle schien nicht wirklich gerechtfertigt, aber ich sagte nichts. Ich wusste, dass Gerda das gleiche dachte, auch wenn sie nur eifersüchtig auf das Schwimmbecken war.
Doland setzte seine Rede fort, sagte etwas über unsere Feinde, wir klatschten und dann verschwand er irgendwo, um „Politiker“-Sachen zu machen.
„Ich werde den Wald nach essbaren Ressourcen erkunden,“ kündigte ich an, stolz darauf, die Begriffe aus dem letzten Biologieunterricht zu verwenden.
„Ich komme mit dir, ich muss einen Platz für unsere Häuser finden“, sagte Bob. Er war verantwortlich für den Bau kleiner Zelte aus Geästen. Nicht, dass er selbst je welche gebaut hätte.
Ich nickte unzufrieden. Ich hätte lieber Abu mitgenommen. Abu war erst vor kurzem in unsere Klasse gekommen, er war aus irgendeinem Land mitten im Ozean, ich konnte mich nicht an den Namen erinnern. Mutti bat mich, ihn zu unseren Spielen mitzubringen, sie erzählte mir, dass sein Zuhause zerstört worden war, deswegen mussten wir nett zu ihm sein. Abu sagte fast nichts. Er bekam immer die anstrengendsten Aufgaben – er sollte unsere Sachen tragen – aber er beschwerte sich nie, so sagte ich auch nichts.
Bob und ich gingen in den Wald. Ich war bisher noch nie so weit weg gewesen. Und plötzlich entdeckten wir ein Feld.
„Ah, geil!“, rief Bob, „So viel Platz!“
Es war echt geil. Das Feld war voll von Blaubeeren, zwischen denen weiße Blumen blühten. Ich probierte eine Blaubeere. Mmm… Total lecker.
„Wir haben Essen gefunden“, rief ich entzückt, als wir zurückkamen. Dann schämte ich mich, da ich wie ein Kind und nicht wie ein ernstzunehmender Wissenschaftler klang.
„Dort könnten wir unsere Häuser bauen“, fügte Bob hinzu.
Alle klatschten. Ich war stolz. Ich hatte meine Aufgabe erfüllt!
„Ah, die Blumen sind so schön…“, seufzte Gerda, als wir das Feld erreichten.
„Gute Arbeit, meine Untertanen“, Doland erinnerte sich wieder an seine Pflichten. „Ihr werdet bestimmt eine Ehrenmedaille bekommen. Jetzt vernichten wir diese Pflanzen!“
Ich war geschockt.
„Was? Die Blaubeeren…loswerden?“
„Und die Blumen?“, Gerda unterstützte mich.
„Wir müssen irgendwo die Häuser bauen!“, erwiderte Vlad. „Niemand kümmert sich um deine blöden Blumen.“
Ich schaute ihn wütend an. Vlad war der Polizeichef. Alles, was er tat, war Leute herumzukommandieren und die Lebensmittel zu verteilen. Er nahm immer das größte Stück vom Gemüseauflauf.
„Nun kümmere ich mich um die Blumen!“, sagte ich und Gerda nickte. „Als Wissenschaftler denke ich, dass diese Ressourcen wichtig für uns sind!“
„Nun als Präsident ist es mir egal!“, rief Doland. Warum musste er immer schreien?
Es wurde immer heißer und wir fingen an zu schwitzen. Ich ärgerte mich mit jeder Sekunde mehr. Sie gaben nicht einmal vor, mir zuzuhören!
„Wenn du ein solcher Präsident bist, dann will ich nicht in deinem Land leben!“, rief Gerda.
„Gut, dann geh!“ erwiderte Vlad.
„Das werde ich!“, sagte Gerda und ging zur anderen Seite des Feldes. Ich folgte ihr.
„Wer möchte sich diesen Rebellen anschließen? Hebt eure Hände!“, fragte Doland verachtungsvoll.
Fünf Hände gingen hoch – alle außer Bob und Vlad. Doland wurde nervös, er hatte das offensichtlich nicht erwartet.
„Denkt daran, dass ich die Kekse habe!“
„Meine Mutter hat sie für alle gebacken!“, protestierte Nils.
„Als Polizeichef sage ich, dass sie dem Präsident gehören“, erwiderte Vlad spöttisch.
Nur zwei Hände blieben oben, Nils und Abu, der wahrscheinlich nur Angst vor Doland hatte.
Bald wurde eine Grenze auf den Sand in der Mitte des Feldes gezeichnet. Doland und seine Mitbürger auf ihrer Seite fingen an, die Pflanzen auszugraben.
„Wir müssen einen Präsidenten wählen“, sagte Gerda.
Alle schauten zu mir. Einen Präsident? Ich stellte mir vor, wie Doland zu sein, tagelang nichts zu machen, mir gefiel die Idee.
Nachdem die Abstimmung vorbei war, fingen wir an, die Blaubeeren zu sammeln. Hah! Bald wird es ihnen leidtun, wenn sie nichts zu essen haben! Und keinen Wissenschaftler mehr! Aber meine Freude ließ schnell nach.
„Hey! Sie werfen Müll auf unsere Seite!“, rief Nils.
Unsere neuen Feinde warfen ihren Abfall über die Grenze.
„Hey!“, rief Gerda auch. „Die Blaubeeren!“
Ich sah zwei meiner ehemaligen Kumpels, die unsere gesammelten Blaubeeren schnappten und über die Grenze verschwanden.
„Warum benehmen sie sich so?“, fragte ich bestürzt.
„Sie haben keine mehr. Sie haben ihre Häuser auf den Blaubeeren gebaut,“ sagte Abu.
Ich war überrascht, es war der erste Satz von Abu. Niemand hatte vorher nach seiner Meinung gefragt.
„So, was werden wir jetzt machen?“, fragte Nils.
„Na, wir sollten auch unsere Häuser bauen“, antwortete ich.
„Was?“, fragte Nils. „Du wirst nichts wegen des Diebstahls machen?“
Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was ein Präsident in einer solchen Situation tun sollte.
„Und der Müll? Sie ruinieren unser Land!“, Gerda klang wütend.
Ich verstand sie eigentlich nicht. Häuser bauen, das hatten wir immer gemacht. Und wir retteten doch die Blumen.
„Okay“, ich gab mich geschlagen. „Was sollen wir machen?“
„Wir sollten sie zwingen, unsere Blaubeeren in Kekse umzutauschen!“, schlug Nils vor.
„Ja! Und wir können einen Wall aus Erde bauen, um uns zu schützen!“, stimmte Gerda zu.
„Gut, na dann!“, sagte ich, „Nils, sprich mit den Feinden über den Austausch. Gerda und Abu, sammelt Baumaterial für den Wall“
Doch sie wurden immer unzufriedener.
„Was? Du erwartest, dass ich den Wall baue?“, schrie Gerda, „Aber du bist der Präsident!“
„Ich kann nicht alles alleine machen! Die Wand war sowieso deine Idee!“, schrie ich fassungslos zurück.
„Es ist deine Verantwortung, nicht unsere“, sagte Nils und ging weg.
Ich setzte mich wütend auf den Boden. Gerda fing an, die Jungs auf der anderen Seite anzuschreien. Es war so heiß. Ich wollte nicht mehr Präsident sein. Es schien nicht möglich zu sein, sie zufrieden zu stellen, sie würden nur wieder sauer auf mich sein.
Abu stand mitten auf dem Feld und betrachtete unsere improvisierte Grenze.
„Du kommst zu spät“, sagte er mit einer so traurigen Stimme, dass es mir unangenehm war.
„Was meinst du“, fragte ich.
Abu erwiderte nichts, und richtete seinen Blick zum Himmel, der so schön und blau gewesen war, als wir zu spielen angefangen hatten. Jetzt war er halb mit schwarzen Wolken bedeckt. Der ferne Donner des Sturms erschütterte den Boden. Ich bekam Angst.
***
Vor dem Abendessen erzählte ich von unserem Spiel.
„Ihr Kinder streitet immer. Ihr müsst lernen, zusammenzuarbeiten, dann würden eure Spiele viel mehr Spaß machen“, sagte Vati.
„Vielleicht…“, seufzte ich, immer noch wütend.
Mutti stellte einen großen Braten auf den Tisch. Mein Magen gluckste. Ich vergaß das Spiel sofort.
„Ein starker Sturm kommt“, sagte Mutti zu Vati. „Ich habe gelesen, dass es der schwerste in einem Jahrzehnt sein soll. Es kann zu massiven Überschwemmungen kommen. Einige haben schon angefangen, ihre Häuser zu evakuieren.“
„Die Regierung sollte etwas unternehmen. Es ist letztendlich ihre Verantwortung. Jedoch streiten sie die ganze Zeit nur mit der Opposition“, Vati schüttelte den Kopf. „Auf jeden Fall ist es unwahrscheinlich, dass wir betroffen sein werden, daher sollten wir uns nicht darum kümmern.“
Argh… Die Regierung. Ich erinnerte mich an unser Spiel. Alle waren so anspruchsvoll… Sie wollten, dass ich alles für sie machte, wobei sie selbst nichts machen wollten! Und wenn ich mir schließlich etwas ausdachte, wurden sie wütend! Ich entschied, nie wieder Präsident zu werden.
Aber hier zu Hause schienen diese Konflikte weit weg zu sein. Ich sah mich um. Vor dem Fenster bemerkte ich Vatis Jeep. Das Auto war so glänzend und neu… Vati hatte es gestern gekauft. Dolands Vater hatte dasselbe und Doland hatte mir erzählt, wie mächtig er sich fühlte, wenn er darin, saß, ich war sehr neidisch gewesen. Ich schaute zurück in die Küche. Alles war so friedlich. Der Fernseher war immer noch eingeschaltet und zeigte einige Bilder von Überschwemmungen in anderen, fernen Ländern, aber Mutti stellte die Lautstärke leiser, so störte es uns nicht. Es schien, als ob wir die einzigen Menschen auf der Welt wären.
Ich nahm noch einen Bissen und bald verschwanden alle Probleme des Nachmittags, meine Ziele, meine Wut, meine Schuld. Ich fragte mich, warum Nils überhaupt kein Rindfleisch aß. Das könnte ich nicht. Der Braten war so lecker…
Was würde wohl nächsten Freitag passieren?