Text 08 – 2023

[ Mozart spielt bei der Krönung ]

Es herrschte ein unheimliches Schweigen im Obersten Gerichtshof in London, als der Richter den Gerichtssaal betrat. Eine Reihe von Perücke tragenden Anwälten standen auf und verbeugten sich. Die Ankunft des Richters weckte Mozart auf, der in der öffentlichen Galerie saß. Mozart trug auch eine Perücke und einen Frack und fühlte sich ganz wie zu Hause – obwohl er keine Ahnung hatte, wo er war oder wie er hierhergekommen war. Seine Schwester, Nannerl, saß neben ihrem Bruder, den sie Wolfi nannte.

Einer der Anwälte fing an, sich  an den Richter zu wenden und skizzierte, worum es in dem Fall ging. Mozart hörte mit großem Interesse zu, weil der Fall einen Streit zwischen zwei Musikerinnen betraf – auf der einen Seite eine Sängerin, die Andrea Berg hieß, und auf der anderen Seite noch eine Sängerin, Helene Fischer. Mozart wusste nichts von diesen Sängerinnen. Berg behauptete, dass Fischer ein Lied kopiert habe, das sie geschrieben hatte – und zwar ein Lied namens „Du hast mich tausendmal belogen“. Mozart flüsterte Nannerl zu, er könne das Problem nicht verstehen, denn er habe Beethoven oft kopiert.

Der Richter starrte ihn an, um ihn um Ruhe zu bitten. Mozart wollte etwas sagen, beschloss aber, ruhig zu bleiben. Der Anwalt fuhr fort und bat den Richter, sich das Lied anzuhören. Nach einem kurzen  Moment wurde das Lied auf einem Plattenspieler gespielt. Mozart fing zu lachen an, dann stand er auf, um seine Meinung über das Lied zu äußern: „Was für eine Art Musik ist dieses sogenannte Lied? Es klingt wie eine melancholische Katze.“ Nannerl versuchte, ihren Bruder dazu zu bringen, mit dem Reden aufzuhören. Der Richter, dessen Geduld beinahe erschöpft war, befahl Mozart, sich hinzusetzen und zu schweigen. Er erklärte dem Herrn Mozart, dass er als Richter für sich selbst entscheiden würde, ob Fischer das Lied kopiert habe, und er bräuchte keine Hilfe dabei. Mozart war erschrocken, weil er wusste, dass er ein weltberühmter Komponist war, und jedes Mal, wenn er sich in den Hauptstädten anderer Länder befand, erhielt er eine Einladung vom König oder der  Königin, um in ihren Palästen seine Geige zu spielen. Er begann diese Fakten dem Richter zu erklären. Die Leute in der öffentlichen Galerie begannen zu lachen. Der Richter fand die Lage weniger amüsant.

Der Richter sprach direkt mit Mozart: „Ich bestehe darauf, dass Sie sich hinsetzen. Solche Unterbrechungen dieses Prozesses kann ich nicht gedulden. Ich weiß nicht, wer Sie sind und auch nicht, warum Sie so gekleidet sind...“. Mozart unterbrach den Richter, verbeugte sich und erklärte, es sei sein Vergnügen, sich vorzustellen; er sei Herr Mozart und, obwohl er überrascht sei, dass der Richter ihn nicht erkannte, wolle er die Beleidigung dieses Mal übersehen. Das Gesicht des Richters wurde leuchtend rot. Er sagte, er würde das Gericht für einen Moment verlassen, damit die Platzanweiser Mozart zu den Zellen unter dem Gerichtssaal begleiten könnten.

Mozart hatte die Absicht des Richters missverstanden. Er dachte, der Richter hätte ihn eingeladen, mit ihm Tee zu trinken. „Nannerl ... du kommst auch mit?“ Nannerl, die nichts missverstanden hatte, wandte sich an einen der Anwälte und fragte, ob er ihrem Bruder helfen würde. Der Anwalt stimmte zu und bat die Platzanweiser, einen Moment zu warten, und er würde mit dem Richter sprechen. Er erklärte Nannerl, dass ihr Bruder zustimmen müsse sich besser zu benehmen. „Wolfi“, sagte sie, „sei vernünftig“. Mozart schenkte seiner Schwester keine Aufmerksamkeit.

In der Zwischenzeit war das Interesse der Presse geweckt worden. Ein Journalist wollte mit Mozart sprechen und fragte ihn, warum er in London war. Mozart antwortete, er sei unsicher, wie er nach London gereist sei, aber nun, da er dort war, würde er sich natürlich eine Einladung von König George erwarten, um im Buckingham Palast Klavier oder Geige zu spielen. Der Journalist lachte und sagte Mozart Bescheid, dass der König nun Charles heiße und dass George, der Enkelsohn des Königs, noch ganz klein sei. Dann fragte der Journalist: „Warum tun Sie so, als wären Sie Mozart?“  Mozart antwortete empört, er sei doch Herr Mozart und könne nicht verstehen, warum er nicht erkannt werde. „So, wenn Sie wirklich Herr Mozart sind, können Sie uns ein Musikstück vorspielen, wenn Sie Ihre Geige mitgebracht haben“. „Natürlich“, erwiderte Mozart und bat Nannerl, ihm seine Geige zu geben. Dann begann er, das Instrument zu spielen. Der Gerichtsaal war plötzlich voller himmlischer Musik. Jeder hörte verzaubert zu.

In diesem Moment näherten sich Mozart die beiden Sängerinnen und fragten ihn, warum er so unhöflich gewesen war, ihr Lied zu beschimpfen.  Sie erklärten, dass nächsten Monat eine von ihnen bei der Krönung von König Charles singen sollte. Welche, das hing von der Entscheidung des Richters ab.

Mozart dachte nach. Dann nahm er wieder seine Geige auf und begann auf der Stelle eine Variation des Lieds der Sängerinnen zu komponieren. Beide Sängerinnen waren erstaunt, wieviel besser die Improvisation im Vergleich zu ihrem Lied war. „So“, sagte Mozart, „das sollte keine Überraschung sein. Wenn Sie beide zustimmen, Ihren Streit zu beenden, dann spiele ich gerne meine Geige und trete mit Ihnen zusammen bei der Krönung auf“. Beide Sängerinnen stimmten zu. Die Anwälte informierten den Richter, dass mit der Hilfe des Herrn Mozart ihre Mandantinnen einen Kompromiss vereinbart hatten. Und so geschah es, dass der weltberühmte Komponist und die weltberühmten Sängerinnen für den neuen König Charles spielen und singen konnten. Die Veranstaltung war ein großer Erfolg. Kurz danach verschwand Mozart und bis jetzt hat ihn niemand mehr gesehen.       

                

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