Text 07 – 2023

[ Der Gefangene Vogel ]

Triggerwarnung – die folgende Geschichte enthält Szenen über eine Essstörung, die einige Zuschauer*innen beunruhigend finden könnten. Informationen und Ressourcen für Menschen, die an einer Essstörung leiden, sind verfügbar unter: https://www.bzga-essstoerungen.de/hilfe-finden/?L=0

Sie atmet tief ein – hier oben an der Spitze des Berges ist es eiskalt, aber die Sonne, die direkt auf ihr Gesicht scheint, wärmt ihren Körper. Es riecht erdig und die Luft schmeckt immer noch nach dem Kaffee, den sie auf dem Weg leergetrunken hat. Vom Wind getrieben ziehen die tief hängenden Wolken unter ihr vorbei, wie Wellen im Meer.

Ja, hier gibt es Freiheit, endlich mal Freiheit.

Endlich ist sie weg von den Regeln und von den Räumen, in denen die Menschen versuchen, sie immer wieder einzusperren. Endlich kann sie atmen, endlich wieder atmen!

Ein trauriges Lächeln erscheint in ihrem Gesicht, denn sie weiß, sie kann nicht für alle Ewigkeit hier bleiben. Sie muss zurück; sie ist sich ihren Pflichten bewusst. Sie schließt ihre Augen und versucht, dieses Bild zu verinnerlichen, das erfrischende Gefühl des Windes auf ihrem Gesicht, das vertraute Gezwitscher der Bergvögel.

Dann kehrt sie der Aussicht den Rücken zu, steigt auf ihr Rad und fährt den Berg hinunter in die Stadt.

***

Als sie im Gewühl der Wiener Innenstadt ankommt, ist es schon spät nachmittags. So schnell wie möglich fährt sie die glatten Straßen entlang und bemüht sich, die Klänge der Autos und das Geschrei der Menschen zu verdrängen. Die peppigen Melodien der Straßenmusiker überschneiden sich in einem unangenehmen Gequietsche, das durch die Stadt hallt. Die Stille des Bergs ist nun weit weg.

Heiß und unerbittlich ist die Sonne, die sich mit der Hitze der Stadt mischt. Ihre Muskeln brennen und sie atmet schnell; es sind ja bereits zehn Stunden vergangen, seit sie Schönbrunn heute vor dem Sonnenaufgang verlassen hat. Schwitzend unter ihrem Sporthemd, biegt sie in eine Nebenstraße. Sie kennt sich hier gut aus, weiß, wie man die Hauptstraßen vermeidet und wo die Geheimnisse der Stadt zu finden sind.

Hier ist es ruhiger; bunt angestrichene Läden und Cafés säumen die Straße. Sie kommt zum Stillstand neben einem kleinen Obstladen, vor dessen Schaufenstern ein Haufen frische Erdbeeren ausgestellt sind. Schon ein Blick auf sie lässt ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Außer des Kaffees hat sie seit ihrem Aufbruch heute Morgen nichts gegessen und das Knurren in ihrem Magen ist nicht mehr zu ignorieren.

Sie trägt schon einen Helm und eine Sportsonnenbrille, aber hier, mitten in Wien, reicht keine Tarnung aus. Sie zieht sicherheitshalber ihre Maske an. Wenn die Pandemie etwas Gutes hatte, dann sind es die Masken – die perfekte Ausrede, um sich mitten in der Stadt zu verstecken.

Nachdem sie eine Schale Erdbeeren und eine Tafel Kinderschokolade (die hat sie am liebsten!) gekauft hat, fährt sie weiter – sie ist fast da, und kann sich das Essen vor Ort gönnen.

Innerhalb weniger Minuten sieht sie Schönbrunn. Goldglänzend in der Sonne erstreckt sich das Barockschloss über die Landschaft. Anstatt zum Eingang zu gehen, biegt sie hinter dem Schloss in den Garten. Es ist Montag und der Garten ist voller Touristen und Schulgruppen, die das herrlichste Schloss Österreichs sehen wollen. Ironischerweise ist sie hier am besten getarnt; mit durchgeschwitzten Sportleggings und matschigen Sneakers erkennt sie niemand.

Langsam fährt sie durch den vertrauten Ort und lässt die Geräusche der Stadt in den Hintergrund treten; ein konstanter brummender Unterton. Sie setzt sich auf einer Bank im Schatten und nimmt die Erdbeeren und fast geschmolzene Schokolade aus ihrem Rucksack – die perfekte Konsistenz für ein spontanes Fondue.

Als sie sich ausruht und die saftigen Erdbeeren genießt, lässt sie ihren Blick über die Menschen ihres Landes gleiten. Kinder, die lachend durch die Blumenbetten laufen; Händchen haltende Paare, die den Gartenwegen entlang laufen; lesende Studierende, die zusammen ein Picknick machen. Sie wünscht sich aus tiefstem Herzen, sie könnte Teil ihres Lebens sein. Wie wäre es, zur Uni zu gehen, normale Sorgen zu haben, die Straßen ohne Tarnung entlangzulaufen, oder –

„Hab dich endlich gefunden.“

Sie stutzt als plötzlich sanfte, warme Hände über ihre Schultern gleiten. Langsam schaut sie hinauf und sieht durch das dunkele Glas ihrer Brille Franz, der sich ebenfalls hinter einer Sonnenbrille und einer Baseballmütze versteckt.

„Gibt es etwas für mich übrig?“ Er deutet auf die Erdbeeren.

„Wie heißt das Zauberwort?“

Sie kann sich vorstellen, wie er seine Augen verdreht. „Bitte dürfte ich eine Ihrer wunderschönen Erdbeeren ausprobieren?“ Sagt er übertrieben.

„Na klar!“

Er grinst und setzt sich neben sie auf die Bank, nimmt eine Erdbeere und taucht sie in der Schokolade ein, „Hmm … schmeckt gut.“

Sie lächelt und schüttelt liebevoll mit dem Kopf, als die Schokolade ihm das Kinn heruntertropft. „Wie ein kleines Kind!“ Sich vorbeugend wischt sie mit ihrem Finger die Schokolade weg; doch bevor sie ihre Hand zurückziehen kann, hält er sie fest.

Er runzelt die Stirn, „Gott, du bist kalt …“

Kalt? Ich fühle mich, als stünde ich in Flammen …

Er legt beide Hände schützend um ihre und reibt sie wärmend. „Wo warst du heute?“

„Ich wollte in die Berge …“, erwidert sie leise und schaut weg, zieht ihre Hand zurück. Selbst wenn er eine Brille anhat, kann sie seinen durchdringenden Blick spüren.

Franz atmet tief ein. „Sissi, wir haben heute Staatsbesuch, der Prinz und die Prinzessin der britischen Königsfamilie. Van der Bellen kommt auch und …“

„Ich weiß … aber sie kommen nicht bis Abend.“

„Sissi … es ist schon siebzehn Uhr und du bist seit dem Sonnenaufgang weg. Ich brauchte dich!“

„Und ich brauchte die Stille!“

Sie schweigen.

Die Schatten unten den Bäumen werden immer länger und durch ihre Augen, die sich langsam mit wütenden sowie verzweifelten Tränen füllen, fällt ihr Blick auf eine kleine Nachtigall auf der anderen Seite des Gehwegs, die komisch vorwärts stolpert.

„Ich mach’ mir Sorgen um dich.“ Franz‘ Stimme wird sanfter. „Du bist kaum mehr da und wenn schon, dann bist du zurückhaltend, distanziert …“

Seine Wörter treten in den Hintergrund, als Sissis Aufmerksamkeit sich auf den Vogel richtet. Die Nachtigall wird plötzlich von den schreienden, spielenden Kindern erschreckt und versucht, wegzufliegen; doch sie stolpert wieder auf den Boden. 

„Ich will dir helfen, aber du musst mit mir sprechen.“

Vergeblich auf dem Boden flatternd bricht ein schwermütiger Schrei aus ihrer Brust heraus, ein Schrei, der sich in Sissis Innerem widerhallt.   

„Sissi, hörst du mir überhaupt zu?!“ 

Sie zuckt zusammen. „Sorry … ich … die Nachtigall … ihr Flügel ist kaputt.“

Franz seufzt tief auf, doch bevor er antworten kann, taucht sein Sekretär auf und unterbricht ihr Gespräch. „Eure Majestät“, fängt er leise an, „Alexander van der Bellen ist gerade angekommen. Er wartet auf Sie im Saal.“

Franz wendet sich nochmals seiner Frau zu, deren Blick immer noch an dem Vogel gekettet ist. „Ich muss jetzt … der Empfang fängt um 19 Uhr an“, sagt er schließlich. Mit einem letzten, fast sehnsüchtigen Blick auf seine Frau, geht er.

Wieder allein schlägt sie ihre zitternden Hände aneinander. Sie versucht seit heute Morgen den Staatsbesuch zu vergessen; will diese perfekte Kate, mit ihren perfekten Kindern, ihrem perfekten Modegeschmack, ihrer perfekten Diät, ihrer perfekten Figur und ihrem perfekten Leben nicht einmal sehen, ganz zu schweigen davon, ein Gespräch mit ihr zu führen, mit ihr fotografiert, analysiert zu werden.

Seit Wochen hören die Medien nicht mehr auf, über den Besuch zu schreiben, zu spekulieren, „Sissi und Kate“ zu vergleichen.

Das familiäre Kribbeln in ihren Bauch fängt an und plötzlich schmeckt die Schokolade, die noch an ihrer Zunge klebt, ekelhaft süß. Sie hätte sie nicht essen sollen. Sie faltet ihre feuchten Hände über ihr Bauch, der sich jetzt hart und aufgebläht anfühlt. Ihr Herz pocht rasch und wild und eine Gänsehaut zieht sich über ihren ganzen Körper.

Sie beißt hart auf ihre Lippe, bis das Blut fließt. Doch das ist nicht genug. Die Fotos von Kates schlanker, makelloser Figur erscheinen vor ihrem geistigen Auge. Sie sieht runter auf ihre kräftigen Oberschenkel und schaudert.

Es muss raus. Sie springt hoch und rennt in die Büsche hinter der Bank, steckt sich die Finger in den Hals und übergibt sich auf den trockenen Boden, bis alles weg ist und ihr Bauch sich wieder flach anfühlt, bis ihr Kopf wieder klar ist. 

Danach sitzt sie einen Moment lang, zieht ihre zitternden Beine zur Brust und erspäht nochmals die Nachtigall, die ebenfalls hinter den Busch gehüpft ist.

„Du auch, hm?“ Ihre Stimme klingt roh, kratzig, schwach.

Die Nachtigall guckt sie mit geneigtem Kopf an, dann verschwindet sie zwischen den Blättern.

***

Zwei Stunden später steht sie vor dem Spiegel. Ihr Make-up ist fertig, die Wunde auf ihrer Lippe ist kunstvoll mit rotem Lippenstift verdeckt. Ihre Augen sind dunkel geschminkt, ihre Wimpern dicht und lang, ihre Wangenknochen hoch und markant.

Das weiße trägerlose Kleid fließt bis zum Boden; durch den Splitt ab ihrer Hüfte blitzen ihre schlanken, nackten Beine hervor. Ihre langen schwarzen Locken sind in einer aufwendig gestalteten Frisur mit Sternornamenten hochgesteckt.

Sie studiert den Körper, den sie im Spiegel sieht, wie ein fremdes Objekt. Doch, als sie ihr Kopf neigt, neigt die Kaiserin im Spiegel ebenfalls ihren Kopf.

„Eure Majestät. Der Kaiser wartet auf Sie.“

Sie macht kurz die Augen zu, stellt sich das Gefühl des kalten, frischen Windes des Berges gegen ihr Gesicht vor, atmet tief. Dann dreht sie sich um und betritt den Saal mit erhobenen Haupt.

Wer hätte gedacht, dass hinter dieser majestätischen Frau eine Nachtigall mit kaputten Flügel steckt?

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