[ Das beliebteste Mädchen der Welt ]
Monate zuvor kommt die Einladung,
schlüpft mit Vorsicht durch den Briefkasten
vom Briefträger,
der seine Wichtigkeit nicht kannte.
Das Thema: das beliebteste Mädchen der Welt
deswegen bin ich eingeladen.
Aber eine der beliebtesten
bin ich doch bereits.
Das Modell einer Malerei.
Ich bin für einen Tag von meinem Bilderrahmen
frei.
Aber es ist nie so einfach.
Folglich begann
die Vorbereitung
die Gesichtsbehandlung, die Ernährung, die Anprobe.
Es war in meiner Zeit nie so schwer.
Damals musste ich zumeist
anwesend sein
und mich setzen.
Der Tag kam schneller als erwartet.
Plötzlich ziehe ich ein Kleid an,
das komplett anders als meine berühmte
schwarze Seide ist.
Ich betrachte das Bildnis im Spiegel genau als ich rausgehe:
Ich habe keine Gemeinsamkeit mit dem Mädchen aus dem Louvre
und erkenne in meinem Spiegelbild nichts als mich
als Lisa.
Das Taxi kommt am Metropolitan Musee an und
ich erinnere mich nicht das letzte Mal, was ich
außerhalb des Museums sah.
Ein Kragen von Fotografen füttert es wie Heerscharen.
Ich rücke mein Kleid zurecht, bügele meine Nerven zusammen mit den Falten aus.
Sie erzählen mir, ich sehe schön aus
als ich aus dem Taxi steige
auf dem roten Teppich.
Lisa, schau hier her!
Ne, hier her!
Wenden! Lächeln! Zeigen Sie das Kleid! Ihr Gesicht!
Die Blitze belegen mich mit Beschuss.
Die Kameras umfassen mich.
Was ich gewohnt bin,
aber die durchgehenden Führungsstäbe sind ungewohnt.
Es war vorher nicht so viel.
Damals saß ich und lächelte
nur wenig, nur genug,
sodass man nicht genau weiß, ob ich die Lächelnde bin.
Roter Teppich, weiße Lichter
ich lächelte so breit, meine Backen könnten zerspringen.
Dann wurde ich weiter durch ein Farbenmeer gedrängt,
um die Kameralinsen des Nächsten anzuvisieren.
Wir alle versuchen
das beliebteste Mädchen des Zimmers
zu sein,
um unseren Sitzlatz zu verdienen.
Auf manche Weise
dauert ein Abend hier länger als
die zwei Jahrhunderte, die ich in Paris verbrachte.
Ich versuche zu sitzen und zu lächeln.
Vielleicht ist es von außen
das schönste Zimmer der Welt.
Wo jede Frau ähnlich gekleidet ist, mit Schminke und Schmuck
und die Fotografen schreien die ganze Nacht.
Die Leute sprechen selten über die Energie, die man braucht,
um schön zu sein und Schönheit vorzuspielen. In diesem Zimmer voller schönen Menschen
brauche ich die Energie vieler Sonnen.
Nach fast fünf Jahrhunderten
in einer Malerei eingesperrt, würde man denken,
dass ich Freiheit genießen würde. Aber
es gibt in meiner Malerei keine Konkurrenz.
Innerhalb des Bildes sitze ich
allein
mit meiner Schönheit.
Der nächste Tag kommt, die Zeitungen
stoßen willkürlich durch den Briefkasten
vom Briefträger,
wie er das so jeden Morgen macht.
Ich steige aus dem Bett,
mein Kleid schläft noch auf dem Boden
und das bekannte Bildnis im Spiegel betrachtet mich
als ich runter nach der Zeitungen greife.
In großen schwarzen Buchstaben
lese ich
Mona Lisa schlecht gekleidet am roten Teppich!
Das Kleid von Lisa zeigt einen Babybauch – oder ist es nun voller Bauch?
Ich ziehe meinen Bauch ein.
Die Wörter auf dem Blatt sind laut.
Vielleicht lauter als die Wörter der Kameras,
die befristet sind
nur im Moment.
Im Bilderrahmen habe ich mich oft gefragt,
was die Besucher denken.
Jetzt weiß ich, dass die Ruhe viel
besser ist.
Innerhalb dessen
bedeuten die Meinungen
gar nichts.
In meinem Bilderrahmen bin ich
eines der beliebtesten Mädchen der Welt, ein Meisterwerk.
Aber laut den heutigen Schönheitsmaßstäben
ist nichts genug.
Wenn eine Frau menschlich ist,
statt nur ein Bild zu sein,
findet die Gesellschaft immer Kleinigkeiten,
die unzureichend sind.
Ich setze mich und lächle
nur wenig.
In diesem vergoldeten Bilderrahmen werde ich,
ungeachtet der wechselnde Erwartungen
und Meinungen der Gesellschaft,
für die Ewigkeit die Mona Lisa bleiben.