[ Auftauchen oder Untertauchen? ]
Als Kaufmann muss man unter allen Umständen ruhig, rational und gewinnorientiert handeln, denn nur so wird man von seinem Cargo gewiss profitieren. Genau dies versuchte ich zu tun, als ich mich umsah und nicht wusste, wo ich war. Ich öffnete meine Augen und sah zwei Reihen terrakotta-roter Gebäude, die in den blauen Himmel über mir ragten. Die Sonne kitzelte mein Gesicht, sodass ich blinzelnd die Gasse, in der ich mich befand, erfasste. Nach mehreren Metern schloss sie sich einer größeren Straße an, auf der ich viele Menschen entdeckte, die etwas Unverständliches skandierten, komische Fahnen hochhielten und mit geballter Faust in die Luft stießen. Ich nahm an, es musste sich um eine Art Aufstand handeln. Hinter den Häusern auf der anderen Straßenseite entdeckte ich einen dunkelblauen Fleck, der sich nach näherer Betrachtung zu einer sich schlangenförmig linksdrehenden Linie entwickelte. Der Avon! Erleichtert stand ich auf und vergaß für einen Moment die vielen Menschen auf der Hauptstraße. Ich erkannte diesen Abschnitt des Flusses wieder und musste daher in meiner Heimatstadt Bristol sein. Das machte es umso einfacher, gleich jemanden aufzufinden, den ich fragen könnte, was passiert war, denn die Erinnerung daran, was ich am letzten Abend gemacht hatte oder wie ich hier gelandet war, blieb mir trotz bester Anstrengungen fern.
Doch ich hatte die Menschenmenge unterschätzt. Sobald ich nur einen Schritt aus der Gasse machte, wurde ich sofort von der Masse mitgerissen. Menschen drängten sich von allen Seiten und mir blieb keine andere Wahl, als mitzulaufen. Mein Versuch die Fahnen zu entziffern gestaltete sich schwieriger als gedacht, denn ich musste gleichzeitig aufpassen nicht umgerannt zu werden. „Black Lives Matter“ konnte ich endlich entziffern und im selben Moment wurde mir bewusst, dass hier Schwarze und Weiße rebellierten. Zusammen! Weiße und Schwarze marschierten Seite an Seite. Es war, als ob sie sich beide gegen die gleiche Sache auflehnten. Fieberhaft überlegte ich, ob das hier alles freigekaufte oder weggerannte Sklaven waren. Ich konnte nicht fassen, dass hier im Herzen Bristols Schwarze frei herumliefen.
Und dann sah ich es. Oder besser gesagt, ich sah mich. Ich stand als eine Bronze-Statue auf einem ein Meter hohem Sockel mitten auf dem Marktplatz. Schockierender als die Tatsache, dass ich nicht wusste, man hatte mich nachgegossen, war, dass meiner Statue eine Schlinge um den Hals gezogen war, mit der man sie nun versuchte zum Fall zu bringen. Instinktiv griff ich nach meinem zu kribbeln beginnenden Hals und starrte fassungslos, ja ungläubig auf die Statue, während ich am Sockel, auf dem ich nicht mehr lange stehen würde, meinen ganzen Namen las: Edward Colston. Gleichzeitig offenbarten sich mir die bislang unverständlichen Rufe: „Down with Colston!“. Mir schien, als ob die Statue anfinge zu tanzen, höhnisch fast. Sie bewegte sich langsam nach rechts, dann schneller nach links, dann noch schneller wieder zurück, dem Schaukeln gleich, wie Schiffskapitäne meinesgleichen es am Heck des Schiffes zu spüren vermögen. Ich fühlte wie meine Knie langsam nachgeben. Warum kannte mich hier jeder, während ich hier niemanden kannte? Doch dann wurde mir bewusst, dass jeder noch immer gebannt auf meine Statue schaute und mich nicht zu beachten schien. Ich stellte fest, dass die ganze Horde überhaupt nicht wusste, dass ich hier war. Von diesem Gedanken ermutigt, schaffte ich es wieder einen freien Kopf zu bekommen.
Die Statue fiel der Aggressivität der Menschenmenge zu Opfer und wurde zum Fall gebracht. Als ob sie sie der Erde gleich ebnen wollten, sprangen die Menschen wie wilde Affen auf der hilflos gefallenen Statue herum. Ich wusste nicht Recht was ich davon halte sollte, zumal ich bis vor kurzem nicht einmal wusste, dass eine Statue von mir überhaupt existierte. Ich war mir nicht sicher, ob ich äußerst wütend auf diese Menschen hier sein sollte oder mich geehrt fühlen sollte, da jemand eine Statue von mir, sogar ohne meine Initiative und finanzielle Hilfe errichtet hatte. Da die Frage, warum eine Statue mir zu Ehren errichtet worden war, an dieser Stelle ein wenig unpassend schien, fragte ich stattdessen die nächste weiße Person, warum man meine- ich meinte die Statue zum Fall gebracht hatte. Der Mann neben mir musste schreien, damit ich ihn durch den ohrenbetäubenden Lärm verstehen konnte und trotzdem verstand ich nur einige Sprachfetzen. Angeblich hatte ich mein Vermögen an der Spitze der Royal African Company im 17. Jahrhundert erwirtschaftet, was auch stimmte und rund 80.000 Afrikaner als Sklaven nach Amerika verschifft. Nun gut, an die genaue Zahl konnte ich mich zwar nicht mehr recht erinnern, aber 80.000 also 5.000 pro Jahr hörte sich ungefähr richtig an. Die Versuche, die Gedenktafel am Sockel umzuschreiben, um darauf hinzuweisen, dass ich mein Vermögen durch den Menschenhandel erwirtschaftet hatte, wurde von der Stadt abgelehnt, da es mich und hier verlor ich allmählich den Faden, in einem schlechten Licht darstellte. Ich war an einem respektablen Handel beteiligt und handelte immer den Gesetzen nach, weshalb ich nicht verstand, dass meine hohe Stellung nicht von Anfang an auf der Tafel stand. Höchstwahrscheinlich hatte ich ihn falsch verstanden, aber logische Antworten in dieser Unordnung zu bekommen schien mir eher unwahrscheinlich, deshalb fragte ich nicht weiter nach, sondern schaute zutiefst angewidert auf das sich vor mir abspielende Spektakel weiter.
Unter Jubelschreien rollten sie mich, die Statue, dann Richtung Hafen. Um genauer zu sein, Richtung Hafenbecken. Diese Beobachtung trieb mich allmählich an meine Grenzen. Die Statue eines sehr respektablen Mannes gewaltsam vom Sockel zu stoßen, um sie dann kurzerhand im Hafenbecken zu versenken, fand ich höchst unangebracht. Ich griff nach meiner Pistole, fasste aber stattdessen ins Leere. Sie musste mir rausgefallen sein, als ich in der Gasse aufgestanden war und ich ärgerte mich über meine Unaufmerksamkeit. Schweren Herzens wurde mir auch wieder bewusst, dass weder meine Mannschaft noch Bekanntenkreis irgendwo zu erkennen waren und ich fühlte mich hier inmitten Bristols mehr fremd, als ich mich je in den südlichsten Teilen Afrikas gefühlt hatte.
Die Statue befand sich jetzt unmittelbar am Rande der Plattform, bis man ihr den endgültigen Ruck gab. Für einen Moment blieb die Zeit stehen und ich sah wie meine Statue ins Wasser flog und anschließend verschwand. Inzwischen hatte ich mich durch die Menschenmasse, dicht bis ans Ufer gedrängt, sodass das Wasser bis zu mir hochspritzte und ich, die sich auf der Wasseroberfläche bildenden Kreise, über das Wasser schnellen sah. Ich beobachtete die sich langsam beruhigende Wasseroberfläche, die als einziger Zeuge noch auf das trübe Schicksal meiner Statue hinwies. Dieser Anblick erinnerte mich an die vielen Sklaven, die bei der Überquerung der Mittleren Passage von Afrika aus auf die Plantagen in die Neue Welt auf unseren Kompanie-Schiffen gestorben waren. Selbstverständlich wurde mit Verlusten gerechnet, da ein Viertel der in Afrika ausgesuchten Sklaven sowieso nie lebendig ankommen würde. Und da die Toten keinen Gewinn mehr brachten, ordnete ich an, die Leichen ins Wasser zu werfen, wo sie von den Haien verzehrt wurden. Wie die Leichen, die die von mir organisierte Überfahrt nicht überlebten, wurde auch mein bronzenes Bildnis ins Wasser geworfen und nun ruhte ich, Edward Colston, bei den Fischen. Ich konnte nicht leugnen, dass diese zutiefst schändliche Analogie mich gewaltig ärgerte.
Noch dazu lag ich genau auf dem Grund des Hafens, an dem einst meine erfolgreichen Schiffe vor Anker lagen. Ungefähr eine Schiffslänge von mir entfernt, fiel mir eine Brücke auf, an die ich mich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Ich erkundigte mich, was das für eine Brücke sei. Von einer weißen Frau neben mir, vernahm ich, dass sie Pero’s Bridge hieß. Die Stelle, an der die Menge die Statue ins Wasser schmiss, hatte daher fast symbolischen Charakter, da Colston - also ich - nun unter einer Brücke lag, die zu Ehren des ehemals versklavten Mannes, Pero Jones, benannt wurde. Nachdem sie mir das alles ausgiebig erklärt hatte und dabei sprach sie über mich in der dritten Person, schrie sie nochmals euphorisch „Black Lives Matter!“. Sie schien sich so sehr zu freuen, dass ich ihr nicht mitteilen wollte, dass es an ihrer Bemerkung einiges zu bemängeln gab. Pero war, wie sie sagte, verstorben, während ich dagegen, obwohl ich es nicht ganz verstand, quicklebendig war und mich mitten unter ihnen befand.
Einige Wochen später
Ich sah wie mein Sockel wieder besetzt war, diesmal mit einer Stahl-Statue. Es war die Skulptur einer schwarzen Person und dazu noch einer Frau! Ich war höchst empört. Die Stadt schien das auch so zu sehen, weil als ich am Nachmittag nochmal vorbeilief, wurde die Skulptur schon entfernt. In der Zeitung las ich, dass die Stadt meine Statue aus dem Wasser gefischt hatte und sie jetzt ins Museum kommen sollte. Zuerst aber müsste eine spezielle Holzkonstruktion angefertigt werden, da die Aufständischen meine Statue dermaßen beschädigt hatten, dass sie nur noch liegend ausgestellt werden könnte. Hätte ich vor ein paar Wochen gewusst, dass ich nach dieser Aktion im Museum prunkvoll ausgestellt werden würde und Menschen dafür zahlen würden mich zu sehen, hätte ich mir bestimmt keine Sorgen gemacht, als meine Statue vom Sockel gerissen, durch die Straßen geschleift und ins Wasser geworfen wurde. Im Gegenteil, hätte ich gewusst welche Ehre mir zuteilwerden würde, hätte ich seelenruhig zugeschaut. Ich musste zugeben, diese neue Welt war wirklich etwas anderes.
very nice story.
Nice story ..!!
Sehr beeindruckende Geschichte
Loved it.I would give you 5 stars.Sehr schön geschrieben.❤️❤️❤️