[ Hirngespinst
/Jan Brandenburg ]
„Was machst du da?“, fragte der Gast.
„Schreiben.“, erwiderte der Mensch.
„Sei präziser!“, forderte der Gast.
„Ich schreibe über Träume.“, fügte der Mensch hinzu.
„Und weiter?“, hakte der Gast nach.
„So weit bin ich noch nicht.“, meinte der Mensch etwas resigniert.
„Möchtest du Hilfe?“, erkundigte sich der Gast mit dem Anflug eines Lächelns.
Der Mensch betrachtete seinen Gast, suchte nach etwas. „Und welcher Traum steckt hinter solch einem Angebot?“
„Ich könnte dir jetzt eine längere Tirade über meinen guten Willen dir gegenüber liefern, aber eigentlich möchte ich nur eins: Chaos.“, sagte der Gast schlicht.
Der Mensch sah neugierig und verwirrt aus. „Davon habe ich schon genug in meinen Kopf… Um mir zu helfen, müsstest du ein wenig Ordnung schaffen… Etwas paradox, oder nicht? Und wer sagt, dass ich etwas schreiben möchte, das Chaos verursacht?“
„Leider lassen sich Ordnung und Chaos nicht wirklich voneinander trennen. Beide sind voneinander abhängig und beide befinden sich im stetigen Streit um die Vorherrschaft. Was ironisch ist, da jede Lebensform ihre eigene Vorstellung einer idealen Weltordnung hat. Wie du es auch gerade erwähnt hast, kommt dieser Gleichung der ewige innerliche Konflikt hinzu.“, erläuterte der Gast.
Die Stirn des Menschen verzog sich. „Aber das macht doch die ganze Lage gerade eben erst chaotisch – und wenn Ordnung nur eine Illusion ist, ist dein Ziel dann nicht schon erreicht?“
„Es ist nicht erreichbar.“ Der Gast hielt einen Moment inne. „Ein Traum, der mich kontinuierlich beschäftigt. Denn das Chaos darf nicht stagnieren, da sich ansonsten die Ordnung manifestiert, welche dann klarer und klarer wird. Und um deine Frage über deine Schreibintensionen zu beantworten: Die Rezeption eines Textes ist bei jedem unterschiedlich und durch die Jugend deiner Worte entsteht am meisten Chaos. Anschließend bildet sich eine allgemeine Meinung.“, fuhr der Gast fort.
„Hmm. Ich gehe mal davon aus, dass deine Lieblingswerke die sind, die eine generell gemischte Meinung enthalten?“, vermutete der Mensch.
„Manchmal. Mein Geschmack ist im stetigen Wandel.“, antwortete der Gast.
Der Mensch legte den Kopf leicht schräg. „Oh ja, ich vergaß, sonst gäbe es Ordnung in deiner Existenz. Überraschenderweise folgen deine Worte einem klaren Pfad.“
„Ich bin nicht das personifizierte Chaos, sondern nur ein passionierter Akolyth.“, erörterte der Gast sichtlich amüsiert.
„Vielleicht sollte ich mich der Erhaltung der Ordnung verpflichten und sei es nur um mir eine dauerhafte Motivation, einen Sinn, zu geben.“, grübelte der Mensch laut vor sich hin.
Der Gast lachte auf: „Ein Traum, so alt wie die denkende Menschheit selbst. Der Traum, die ultimative Antwort auf den Sinn der eigenen Existenz zu finden.“
Der Mensch musste schwer seufzen: „Du verstehst mich falsch. Ich denke, dass jeder sich in seinem Leben einen eigenen Sinn gibt. Ein Sinn, dessen Ursprung sich in seinen tiefsten Träumen finden lässt. Und mein Traum ist es, träumen zu können.“
Der Gast rollte mit den Augen. „Wie tiefsinnig… Diese Fähigkeit besitzt du – genau wie jeder andere. Du hättest nur gerne Träume, die auch in Erfüllung gehen können und wenn ich mit meiner Annahme nicht falsch liege, dann träumst du einfach nur von Stimulation.“ Die letzten Worte kamen trocken.
Der Mensch formulierte seinen Gedanken um: „Worüber soll ich träumen? DAS wäre wohl eher meine Frage!“
„Über Dinge, die du nicht hast und doch haben möchtest?“, schlug der Gast vor.
„Klingt egoistisch.“, meinte der Mensch skeptisch.
„Ist es auch. Na und?“, sprach der Gast.
„Keine Ahnung.“, kam es murrend. „Irgendetwas stört mich daran. Viele Träume treten dadurch doch in Konflikt mit anderen Träumen.“, räsonierte der Mensch.
„Ein süßes Durcheinander.“, erfreute sich der Gast.
„Selbst Träume von altruistischer Natur haben einen tief egoistischen Aspekt…“, fing der Mensch wieder an.
„…und auch altruistische Gedanken an sich, gehen schon gegen die Träume mancher Leute.“, beendete der Gast den Satz. „Träume führen zu Konfrontationen. Schon allein der Traum, als Sieger hervorzugehen, impliziert die Existenz von Verlierern.“
„Wie würde ein Traum aussehen, der diese Ordnung zerschmettern könnte?“, wollte der Mensch wissen.
Der Gast schmunzelte: „Alles fängt mit einer Idee an – und wie ich sehe, hast du auch schon eifrig während unserer Unterhaltung mitgeschrieben.“
„Nun ja, vielleicht sehe ich später etwas in diesen Aufzeichnungen, was ich jetzt gerade übersehe.“, erklärte der Mensch.
„Vielleicht solltest du dich eher auf das Jetzt konzentrieren.“, riet ihm der Gast.
„Ich bezweifele irgendwie, dass ich von jetzt auf gleich transzendiert werde, um auch nur annähernd abstrakt genug über das Konzept, von dem wir hier reden, denken zu können.“, sinnierte der Mensch.
Der Gast sah äußerst zufrieden aus. „Die Erfüllung aller Träume, ohne dass der Traum eines einzelnen Individuums sich gegen solch einen Traum stellt?“, fragte er spitzbübisch.
„Nein! Da wäre die einzige Lösung nur, jeden in seine eigene Traumwelt zu sperren. Dies würde wiederum Träume und Freiheit an sich einschränken… Das macht doch alles keinen Sinn! … Nur noch mehr Chaos!“, stieß der Mensch frustriert aus. Eine Frustration, die sich nur umso mehr verstärkte, als der Mensch feststellte, dass sein Gast gegangen war.
Die Sonne ging auf.
„Morgenstern… Ich wünschte, du würdest dir eine neue Leidenschaft zulegen!“, seufzte ein stummer Zuhörer.