[ Mein Atlantis ]
Der Sand brennt in meinen Augen. Der Wind weht warm um meine Beine. Ein so viel wärmerer Windhauch als ich ihn jemals zuvor hätte spüren können. Die Brandung rauscht in meinen Ohren, als ich meine Fußspitze in das kühle Nass des Ozeans tauche. Das Wasser ist kühlend und doch spüre ich sofort, wie es sich klebrig auf meine Haut legt. Reflexartig ziehe ich den Fuß zurück. Gräulich schimmert der Meeresgrund durch die schaumig auf der Wasseroberfläche wiegende Masse. Nur ein paar Schritte weiter kann man das Meer unter den öligen Federn, alten Metalldosen und Fischernetzen nicht einmal mehr erahnen. Doch hier, am Ende der Halbinsel, könnte man beinah meinen, alles wäre wie früher.
Früher. Eine wehmütige Erinnerung. Schmerzhaft ist bereits ein kurzer Gedanke. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Tränen gibt es ohnehin keine mehr zu weinen, doch der Schmerz ist deshalb noch lange nicht kleiner geworden. Als ich meine Augen wieder öffne, scheint es mir als blitze kurz, ganz kurz blaues, klares Wasser und weicher Sand unter der Meeresoberfläche auf. Doch in der Sekunde, in der ich die Stelle klarer betrachten will, schlagen die Wellen bereits wieder zusammen und verschlucken das kleine Stückchen Erinnerung mit sich.
So schnell. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Man hätte etwas dagegen unternehmen können. Hätte, hätte. Doch davon waren die Probleme nicht verschwunden. Ein Ölteppich, ein Plastikteppich und ein Teppich auf dem Bewusstsein der Menschen. Unterschwellig und leise war es gekommen, vieles von weit her. Aber wir waren die ersten, die weichen mussten. Die ersten, die keine Kraft hatten, sich gegen den Lauf der Dinge zu stellen. Irgendeiner bezahlt immer den Preis.
Zwischen durchweichter Wellpappe und unter einem alten Turnschuh blitzt es schon wieder bläulich. Ist es Einbildung? Spielt die Mittagshitze meinem Verstand einen Streich?
Nein, kein Zweifel. Ein Bild.
Mit einem Stock ziehe ich den alten Schuh vorsichtig, ganz vorsichtig näher. Schiebe ihn langsam zur Seite. Eine alte Zeitung kommt zum Vorschein. Durchweicht vom Salzwasser, aber dennoch da. Nie in meinem Leben hätte ich diesen Artikel jemals vergessen.
Dieses Bild. Die Überschrift.
Die Tinte des Artikels ist in schwarzen Bächen verlaufen, hatte sich mit dem Meer vereint. Aber die Schlagzeile und das Bild des blauen Meers sind wie durch ein Wunder erhalten.
Eine Flut und alles ist zu Ende.
Untergegangen. Mein Atlantis.
Hätte ich doch etwas tun können. Sie retten. Helfen. Einfach nur da sein.
Aber ich war hier gewesen, nicht dort. Und bis heute fühlt es sich bei jeder neuen versunkenen Stadt, bei jeder einzelnen Insel, die vom Meer verschluckt wird, wie ein erneuter Schlag in die Magengegend an.
Bald wird es auch hier so weit sein. Die letzte Insel. Das letzte Stückchen Land, was uns noch geblieben ist. Bald werde ich zurückkehren, ein letztes Mal mit meinem Atlantis vereint sein. Ein letztes Mal die Wellen über meinem Kopf zusammenschlagen spüren und dann…
… ja, dann werde auch ich nicht mehr sein. Untergegangen. In die Tiefen des einst so kristallklar glänzenden Meeres werde ich zurückkehren. Zurück zu meinem Atlantis.
Das ist das zweite Gedicht, das ich gelesen habe. Eine Freundin, die ebenfalls an diesem Wettbewerb teilnimmt und die ich aus einem Theaterprojekt in der Nähe von Berlin kenne, hat mich hierauf aufmerksam gemacht.
Ganz ehrlich: Dieses Gedicht hat mich vom ersten Vers an hineingezogen. Sehr schön und romantisch.