Text 22 – 2020 Gewinnerin

[ Axel und ich ]

01.01.2100

Ich und Axel sitzen auf dem Dach eines riesigen Blocks aus Beton und freiliegendem Metall. Es ist eine Art Fossil der Zeit, bevor alle gingen. Es war wahrscheinlich einmal ein Parkplatz oder ein Bürogebäude, es ist schwer zu sagen, bei all den Unwettern und den Kriegsschäden. Seine Beine baumeln noch länger als meine über der Dachkante, und unsere Füße in ramponierten Turnschuhen klopfen im Takt zu einem imaginären Lied gegen den Beton. Ding. Dong. Klong. Irgendwo läuten Glocken. „Hey! Das ist der Beginn des neuen Jahrhunderts, oder?“, ruft Axel aus. „Ich will nicht die langweiligste Person auf diesem Dach sein, aber das neue Jahrhundert beginnt erst im nächsten Jahr. 2101. So funktioniert der gregorianische Kalender.” Er dreht sich mit einem verständnislosen Blick zu mir um, der mir sagt, dass ich tatsächlich die langweiligste Person auf diesem Dach bin. Ich erkläre, dass mein Chip, bevor ich ihn entfernte, wirklich an der Geschichte der menschlichen Zivilisation interessiert war, insbesondere am Konstrukt der Zeit. Der gregorianische Kalender hat kein Jahr Null und daher müssen wir vom ersten Jahr an zählen, nicht vom Jahr Null, da das Jahr Null nicht existiert.

„Wir könnten aber genauso gut auf etwas trinken, nicht?“ sagt er und kippt eine lange, klare Flasche in meine Richtung. Ich erzähle ihm, dass er Recht hat. „Scheiß drauf! Prost auf 2100, darauf, dass dieses Jahr besser ist als das letzte. Und das davor. Und das davor.“

Nach einer Weile frage ich: „Kann ich deine Narbe nochmal sehen?” Axel zuckt leise die Achseln und zieht seine Haare hoch, um den Nacken sichtbar zu machen. Es ist so ein winziger Fleck, dass ich ihn zuerst kaum sehen kann. Dann finde ich die Narbe, eine schlanke gerade Linie, dunkelrot, die gegen die Blässe seiner Haut beinahe leuchtet. Ich fahre mit dem Finger darüber und er zuckt leicht zusammen. Sie ist immer noch frisch. Meine wird jetzt vollständig geheilt sein. Auf Nimmerwiedersehen. 

Ding. Dong. Klong. „Findest du nicht auch, dass diese analogen Glocken so bedrohlich klingen?” fragt er leise, und ich sage ihm nicht wirklich. „Ich hasste die digitalen. Nichts Heiliges an diesem Klang. Ich habe es nie in Frage gestellt, bis mein Vater mich vor einigen Jahren in eine Kirche außerhalb von Zone 8 gebracht hat. Alle hatten das Gebiet bereits geräumt, aber die Glocken funktionierten immer noch, also gingen wir in die Kirche und läuteten. Ich schwöre bei Gott, ich hatte damals fast eine religiöse Erfahrung.” 

Das bringt ihn zum Lachen. In der Welt, in der wir leben, ist die Idee von Religion und einer höheren Macht, die uns beschützt, ein Witz. Niemand schützt uns außer wir uns selbst.

Ich fahre fort, „Analoge Dinge haben etwas beruhigendes. Sie sind greifbar. Echt. Vertrauenswürdig. Ich dachte, das wäre unsere ganze Philosophie: Zur Hölle mit der Digitalität.” Er schlürft den letzten Flüssigkeitsrückstand aus der Flasche und wirft ihn vom Dach in das Skelett der Stadt und ruft „Zur Hölle mit der Digitalität!“ aus vollem Herzen. 

Ich habe Axel vor einem Jahr auf demselben Dach getroffen. Er war der erste Mensch, den ich seit Tagen gesehen hatte. Nach den letzten Flügen, die Hunderte von passiven Menschen in den Tod führten, war ich mir sicher, dass ich die einzige sein würde, die noch übrig war. Noch am selben Tag haben wir es geschafft, in den Bunker von jemandem namens Herrn F.M.R. Peltzer einzubrechen, versteckt unter einer Kirche. Bevor sich alles so schnell verändert hatte, beleidigte ich die Bunkerbesitzer und nannte sie paranoid und verrückt, weil sie jahrelang Lebensmittel und Unterhaltungsprodukte in eine ekelhafte unterirdische Hütte gepackt hatten. Es ist lächerlich, wie falsch ich lag. So ist das Leben, wie ich es sehe. Ohne Herrn F.M.R. Peltzer wäre ich schon lange weg. Ich erhebe für ihn immer wieder ein Glas mit Axel als Tribut. Es ist ein ziemlich erbärmliches Dankeschön, aber wir haben nichts anderes. 

01.01.2099

Ich klettere so schnell ich kann auf das Dach und komme schnell außer Atem. „Was machst du, Anya? Das ist nicht der richtige Weg. Du wirst dafür bestraft ...“, jammert die Stimme in meinem Kopf. „Halt die Klappe, halt die Klappe, halt die Klappe“, murmele ich und rolle mich zu einem Ball und presse mich gegen die Wand, meine Hände auf meinem Kopf. „Du bist nicht einmal real.” Es gibt eine Pause, während der Chip über diesen Punkt nachdenkt. „Wenn etwas Erinnerungen schaffen und lernen und denken kann, hat es ein Bewusstsein, oder? Was unterscheidet also einen Chip von einem Menschen? Was macht einen Menschen menschlich? Seine Körperlichkeit? Ich verstehe es nicht. Ich bin so menschlich wie du. und ich sage dir, du sollst nach Hause gehen.“ Uns wurde gesagt, wir sollen unseren Chip lieben. Wir sollen das Gefühl haben, dass er Teil unseres Körpers ist, Teil unseres Selbst. Sie sagen uns, er ist dein Freund, dein Helfer, deine Karte, dein Handy, deine Kamera, dein Alles. Und ich antworte darauf: „Halt die Klappe, halt die Klappe, halt die Klappe.“ Der Himmel über mir ist voll, voller Flugzeuge. Da die Lichtverschmutzung vor langer Zeit so stark wurde, sehen wir keine Sterne mehr. In gewisser Weise ähnelt der Himmel heute Abend, überfüllt mit intergalaktischen Flügen, einer besonders klaren Nacht, in der der Himmel mit glänzenden Flecken übersät ist. Außer dass diese glänzenden Flecken blinken und das lauteste Geräusch machen, das man sich nur vorstellen kann. Ich sollte jetzt auf einem dieser Flüge sein. Stattdessen verstecke ich mich auf diesem Dach. Ich habe heute Abend einen etwas anderen Plan. 

Nachdem eine Welle von Flugzeugen davongeflogen ist, nehme ich meine Hände von meinem Kopf und schaue auf und stelle fest, dass ich nicht mehr allein auf dem Dach bin. Die Gestalt einer langen, schlaksigen Person sitzt mir gegenüber und hockt in derselben Position. „Es hat keinen Sinn, sich zu verstecken, weißt du“, krächzt die Stimme des Umrisses, „unsere Chips haben Ortungsgeräte. Es dauert nicht lange, bis wir gefunden werden.“ Ich schüttle leise den Kopf. „Das war der letzte Flug. Sie werden jetzt aufgehört haben zu suchen.“ Die Stimme meines Chips plappert, zunehmend verzweifelt, aber ich ignoriere sie und lächle in dem Wissen, dass sie nicht lange weiterplappern wird. „Hey. Hey. Entschuldige mich“, sage ich, „aber kannst du mir einen Gefallen tun?“ Ich halte ein kleines Messer hoch und die Person sieht für ein paar Sekunden erschrocken aus. „Ich bedrohe dich nicht, ich verspreche es. Ich bin Anya.“ Der Himmel ist still geworden und die Person setzt sich richtig auf, um sich als Junge zu zeigen, ungefähr so alt wie ich. „Ich bin Axel“, sagt er. Ich sage ihm, dass es wunderbar ist, ihn zu treffen, und frage, wie er sich fühlen würde, wenn er einen kleinen Schnitt in meinem Nacken machen würde. 

01.01.2100

Ding. Dong. Klong. Ich blinzle einmal. Dann zweimal. „Ey, Anya! Bist du in Ordnung? Du hast eine Weile intensiv auf diesen alten Ziegelstein gestarrt.“ Ich stehe auf und strecke mich und sage Axel, dass es mir gut geht. Ich habe gerade festgestellt, dass ich seit einem Jahr frei von Lärm bin, ein Jahr frei von Chips. Ich schaue auf die Überreste der Stadt. Die Überreste dessen, was einst voller Menschen, Lärm und Maschinen war. Hier fällt uns nichts leicht, denke ich. Aber zumindest sind wir frei.

Ich bemerke, dass Axel neben mir steht. Er greift nach meiner Hand und wir hören eine Minute lang der Stille zu, bis die Glocken wieder zu läuten beginnen. 

„Komm schon”, sagt er selbstbewusst, „hör auf so nachdenklich zu sein und lass uns diese Kirche suchen. Wenn analoge Glocken so großartig sind, würde ich sie gerne aus der Nähe sehen.“ Und los gehen wir in unsere verlassene Stadt.

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