Text 19 – 2019

[ Brief – Alma Mahler-Werfel ]

Wien, den 20. April 1910

Liebe Maria,

oh heilige Maria Mutter Gottes! Was habe ich gemacht? Das kann nicht sein, das kann nicht passieren. Wie ist es passiert? Ich bin zerstreut - Ich kann nicht klar denken. Mein Leben ist zerstört. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wie kann ich es am besten erklären?

Im letzten Monat waren ich und Anna in der Steiermark, in Graz. Ich brauchte eine Pause von Gustav. Die Stimmung zu Hause war zu angespannt. Die letzten Tage, vor unserer Abreise, waren sehr monoton. Ich konnte das nicht mehr aushalten, darum bin ich gefahren. Ich habe eine passable Unterkunft für uns gefunden. Sie ist wunderschön in den Bergen gelegen. Am zweiten Tag brauchte ich einen Tag für mich. Um etwas Zerstreuung zu finden, begab ich mich auf den Weg in den Garten. Dort gab ein Pavillon versteckt hinter Rosenbüschen. Als ich dort saß und den Vögeln zuschaute, kam ein Mann auf dem Weg vom Haus hinunter. Er war so - wie kann ich ihn beschrieben? Sein Gesicht war perfekt, ohne Falten und Flecken. Sein Körper sah kräftig gebaut aus - ich konnte mich nicht abwenden. Meine Gedanken spielten verrückt. Ich stellte mich vor. Walter war sein Name. Oh wenn ich diesen Name höre, möchte mein Herz vor Freude zerspringen. Ich begann ich mit ihm zu reden. Er hat gesagt: „Guten Abend junge Dame. Warum sitzen Sie hier ganz alleine?“. Wir fingen ein Gespräch an und er hat mich eingeladen zu einem Abendessen in der Stadt. Natürlich habe ich ja gesagt! Es war etwas Besonders an diesem Mann, und ich wollte mehr über ihn erfahren.

Nach diesem Abend gab es viele weitere Abende. Ich könnte, und kann, nicht weit von ihm sein. Wenn ich mit Walter bin, fühle ich mich anders. Seine Präsenz gibt mir ein neues Gefühl, und das gefällt mir so sehr. Als wir zusammen waren, waren wir wie eine Person, wir waren unzertrennlich. Ja,ja,ja - ich bin zwar verheiratet, aber im Moment fühle ich nichts für meinen Mann. Du musst zugeben, dass Gustav kein richtiger Mann ist. Seit Monaten -nein seit Jahren - haben wir nebeneinander hergelebt. Aber mit Walter ist es anders. Walter ist so enthusiastisch, so liebevoll und so stattlich. Ich liebe ihn, Maria.

Ohne Zweifel, habe ich ein großes Problem. Mein Geheimnis ist kein Geheimnis mehr. Ich habe Walter seit drei Monaten nicht gesehen, aber wir schicken uns jeden Tag Briefe. Erst waren wir vorsichtig, aber Gustav ist gewitzt. Zu gewitzt. Heute, nach einem Termin bei der Familie Albers, bin ich nach Hause gegangen. Gustav war in der Küche und hielt einen Brief in seiner Hand.

„Liebe schöne hübsche Alma,

ich vermisse dich. Ohne dich kann ich nicht weiter gehen. Können wir bitte weglaufen? Ich brauche dich, hier mit mir. Bitte verlasse deinen Mann.“

Mein Herz begann zu rasen. Oh Maria, ich liebe ihn nicht aber seine Augen waren so traurig. Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen. Ich fühlte mich so schuldig. Ich sagte nichts, aber er sagte viel. Er stellte mich vor die Wahl: Er oder Walter. Oh Maria!!! Was soll ich machen? Ich liebe Walter sehr aber meine Familie... Anna ist noch so jung und sie braucht ihre Mutter. Ich würde alles für sie tun. Aber Gustav, ich liebe ihn nicht. Er ist arrogant, selbstsüchtig und er redet nur um die Gesellschaft. Halloooo langweilig! „Die Regierung macht X“ und „die Regierung macht Y“. Ja und was macht meinen Mann??? Nichts! Jeden Tag sitzt er im Wohnzimmer und er liest die Zeitung. Jeden Tag findet er Zeit um die Zeitung zu lesen, aber er hat nicht genug Zeit um mit seiner Frau zu reden! Genug ist genug und ich brauche etwas anders. Ohne Abwechslung oder Entspannung lohnt sich das Leben nicht. Walter ist wie ein frischer Wind, der durch mein Leben fährt.

Ich kann deine Zurechtweisung hören. Gustav hat Probleme. Aber Maria, ich habe versucht ihm zu helfen. Er will meine Hilfe nicht annehmen. Jeden Tag beschwert er sich über alles: „Oh ich habe so ein schlechtes Leben, niemand liebt mich, ich bin allein, ich habe keine Freunde, wie kann ich glücklich sein?“ und so weiter. Halloooo, ich habe auch Problemen. Wenn er bei Freud ist (für „Therapie“), muss ich auf Anna aufpassen. Ich muss allein zu Hause bleiben. Ich habe keine Freunde (außer dich Maria). Ich habe alles aufgeben, aber für was? Jetzt weiß ich nicht weiter, aber ich weiß, dass ich nichts für Gustav fühle. Wir sind nur zwei Fremde, die zusammenleben. Ich weiß nur, dass ich Walter liebe.

So, was soll ich machen? Bitte hilf mir Maria. Du hast immer Rat. Für wen soll ich mich entscheiden? Was glaubst du, die mich besser kennt als mich selber, mit wem könnte ich glücklich werden? Ich erwarte sehnlichst auf deine Antwort.

Liebe Grüße, sendet dir deine auf ewig treue Freundin,

Alma

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