Text 17 – 2021

[Am Schreibtisch Amy Priestley]

Wenn ich nun meine liebe Sara besuche, sitzt sie immer noch am Schreibtisch. Es ist doch schon lange her, seitdem sie etwas geschrieben hat. Der Tisch hat, soweit ich mich daran erinnere, ursprünglich ihrem Vater gehört und innerhalb der vier pfefferminzfarbigen Wände ihres neuen Zimmers im Altersheim ist er die einzige Spur ihres früheren Lebens; das einzige, das sie mitgebracht hat. Die Bücher, die so ordentlich im Regal stehen– so, als ob sie auf einen Leser oder eine Leserin warten würden sind in einer Sprache geschrieben, die sie kaum versteht. Die Gemälde, der Teppich, die Gardinen und die Bettdecke sind neu und ihr deswegen gleichgültig. Ich sage nichts, das einzige Geräusch ist das leise Trommeln ihrer blassen, knochigen Finger auf dem alten Holz. Mir fällt auf: außer dem Schreibtisch bin ich es, der sie die längste Zeit begleitet hat. Aber ich bleibe ja nicht viel länger.

Ihre hellgrauen Augen starren wie Glaskugeln durch das Fenster. Sie schaut wie die kleinen Amseln herumfliegen, wie sie ihre samtschwarzen Flügel ausbreiten, sodass die Federn das Sonnenlicht einfangen. Meine Sara war einmal wie ein kleiner Vogel. Sie putzte sich stolz heraus und sang den schönsten Vogelgesang, den ich je gehört habe. Die Sprache war für sie wie ein Zauber. Durch ihre Erzählungen, ihre Geschichten hatte sie die Macht, Bilder zu malen, Universen zu schaffen und uralte Rätsel zu lösen. Wörter waren für sie nicht bloß Buchstaben, schwarz auf weiß, sondern tausendfarbige Pinselstriche, aus denenganz plötzlich ein zeitloses Meisterwerk entstehen konnte. Ohne sich zu bemühen, verwandelte sie vor unseren Augen das Unverständliche in das Verständliches; so leicht wie sie einmal Hühnersuppe gemacht hatte.

Ab und zu stellte ich mir vor, dass, nachdem sie ein Märchen oder ein Schlafliedchen aus ihrer Muttersprache für uns übersetzt hatte, die Reste der Muttersprache noch auf dem Küchentisch lagen, genauso wie die Reste des Hähnchens. Die harten, ungenießbaren Knochen, die gefährlich sein können, wenn sie in einer Suppe für englischsprechende Münder eingekocht werden; Wörter, die Engländer im Ganzen schlucken müssen. Zeitgeist. Doppelgänger. Wanderlust. Aus weichen Konsonanten, ch, sch und pf, und umlautenden Vokalen, ä, ö und ü entstand eine leckere Suppe, die wir zusammen genießen konnten und die uns alle nährte. Nebenbei hatte sie den Kindern ein wenig Deutsch beigebracht, mir aber nur ein paar Wörter. Guten Morgen, Gute Nacht, ich liebe dich. Auf Wiedersehen.

Es passiert manchmal, dass Menschen mit Demenz ihre Sprachkenntnisse verlieren, selbst wenn sie seit Jahrzehnten in einem anderen Land wohnen und die Sprache dieses Landes fließend beherrschen. So wurde es mir erzählt. Alle in einem ganzen Leben erlernten Wörter fliegen in den Schleier des Unwissens zurück, woher sie einmal gekommen waren. Der Zauber, der einmal ihre Sprache gewesen war, hatte nun ihre Stimme weggezaubert. Trotzdem ist es immer ein Zauber gewesen, niemals ein Fluch. Ohne die Sprache, hätten wir uns niemals verliebt. Meine Sara ist nun ein Vogel, der unseren gemeinsamen Vogelgesang vergessen hat. Ich sehe ihr in die Augen und weiß, dass ihr Gesang weitergeht, obwohl ich ihn nicht mehr verstehe. Sie schaut mich an und ich weiß, dass sie weiß, was ich denke.

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