Text 16 – 2018

[Zusammen bis ans Ende]

Am Bahnhof warteten wir auf den nächsten Zug.

„Und was jetzt, Sara?“, fragt der kleine Tariq mit einem Zittern in seiner Stimme.

Ich drehte mich zu meinem Bruder und sah ihn mir genau an. Unschuldige kugelrunde blaue Augen, eine kleine Knopfnase, und ein hoffnungsvolles Lächeln auf den Lippen.

„Ich weiß nicht, kleiner Mann“, erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. Ich schaute zweifelhaft in die Ferne.

„Ein Tag nach dem anderen“, flüsterte ich mir selbst zu und musste wieder an den entscheidenden Tag denken, an dem der Albtraum begonnen hatte.

„Packt eure Taschen mit den minimalsten Sachen, die ihr braucht“, bellte Papa durch unser kleines Häuschen. Tariq und ich sahen uns an.

„Sie kommen“, flüsterte er mit einem düsteren Blick. Ein Blick der nicht zu einem Kind seines Alters passte. Er hatte Angst, das sah man ihm an. Doch Recht hatte er: Sie waren nicht zu unterschätzen. Sein Gesicht verlor alle Farbe und auch meine Hände fingen an zu zittern. Ich sah mich um. Die pastellgelbe Tapete an der Wand war mit kleinen Tauben mit ausgestreckten Flügeln verziert. Obwohl unser Zimmer ziemlich eingeschränkt war, waren die Vögel ein Symbol der Freiheit. Ich fühlte mich wohl. Die Farbe war auch erfreulich. Das Gelb erinnerte mich immer an die warme Sonne, die mit ihren Strahlen sanft über die Linien meines Körpers fuhr.

„Sara“, rief mich mein kleiner Bruder. „Mach schnell!“

Aus den Gedanken gerissen sah ich mir die gelbe Tapete noch einmal an. Erst jetzt musste ich an einen goldenen Käfig denken. Jetzt war er nur noch ein Andenken an unsere Gefangenschaft. Wir steckten in einem Land fest, in dem die Regierung uns loswerden wollte. Wenn wir nicht schnell genug aus diesem Haus rauskämen, dann hätte sich unser einst sorgenfreies Zimmer sich in einen Käfig verwandelt. Ich nahm Tariq beim Arm und sah ihm tief in die Augen.

„Du musst jetzt stark sein. Nimm ein paar Hosen und zwei Shirts und pack sie in deinen Lieblingsrucksack, der von Oma mit den Autos. Beeil dich, wir haben nicht viel Zeit“. Er lächelte, doch sein Blick war voller Panik. Tariq drehte sich um und rannte zu unserem Kleiderschrank. Mittlerweile nahm auch ich meine Tasche und schmiss die wichtigsten Sachen hinein: Unterwäsche, zwei Hosen, einen Pullover und meinen Beutel mit hygienischen Produkten. Plötzlich platze Papa wieder ins Zimmer.

„Wir haben keine Zeit mehr“, bellte er. „Mama wartet unten auf euch. Kommt, Tariq und Sara!“.

Mein Bruder und ich nahmen uns an den Händen und rannten die Treppe hinunter. Ein letztes Mal lies ich meine Hand am Gelände entlangfahren. Ich konnte jeden Holzsplitter und jede Delle fühlen. Im Flur stand Mama und schaute auf, als wir die Treppe herunterkamen.

„Sara“, sagte sie sanft zu mir. „Nimm Tariq und pass gut auf ihn auf.“

Erst jetzt merkte ich das die Taschen meiner Eltern fehlten. In meinem Kopf fing es an zu pochen und auf einmal wurde mir bewusst: Sie würden nicht mit uns kommen.

„Nein“, schluchzte ich laut. Ein Kloß blieb in meinem Hals stecken.

„Hör mir gut zu“, sagte sie. „Das musst du machen! Dein Vater und ich werden versuchen sie so lange wie möglich davon abzuhalten nach euch zu suchen. Ihr müsst rennen!“ Ihre Hände umrahmten meine Wangen und sie zog mich in eine warme Umarmung. Nur ich fühlte keine Wärme, sondern einen reinen Schock. Sie wandte sich an Tariq und nahm auch ihn fest in die Arme.

„Hör auf deine Schwester. Ok, kleiner Mann?“

Im Gegensatz zu mir, versuchte Tariq sich in Mama hinein zu kuscheln. Er hatte sich an sie geklammert so wie ein Koala sich an einen Baum klammert. Papa kam dazu und wir hatten eine Familien-Umarmung. Diese paar Sekunden ließen mich glückselig, unwissend, dass uns die Zeit davonlief. Doch kurz danach löste ich meine Arme von meinen Eltern und nahm Tariq aus den Armen meiner Mutter.

Ich hatte mich entschlossen! Damit die Sicherheit meines Bruders garantiert war, mussten wir jetzt los. Mit meinen Augen zeichnete ich die Konturen der Gesichter meiner Eltern ein letztes Mal nach. Sie würden mir fehlen. Ich wusste, wäre ich noch eine Sekunde im Haus geblieben, hätte ich mich nicht umdrehen können um zu gehen. Ich packte Tariq am Arm und schob ihm seinen Rucksack auf die Arme.

„Zieh den an. Wir müssen gehen“, sagte ich zu ihm. Ich richtete meine Entschlossenheit auf ihn und legte ein tapferes Gesicht für ihn auf. Doch er zerrte sich los von meinem Griff und rannte zurück zwischen die Beine meiner Mama.

„Ich will nicht gehen“, weinte er nun. Ich marschierte ihm nach und nahm ihn fest an seiner Hand. Mama schob ihn vor und beugte sich zu ihm runter.

„Jetzt mach kein Theater, Sara braucht dich. Du bist ein starker Mann und musst auf sie aufpassen“, erklärte sie ihm. Tariq nickte und drehte sich wiederwillig zu mir um, aber er kam. Jetzt hörten wir sie die Straße herunter marschieren.

„Links, zwo, drei vier, Links, zwo, drei vier, Links, zwo, drei vier“, hörten wir parallel zu den schweren Schritten.

Tariq und ich rannten los in den Wald neben unserem Haus. Wir hatten keine Zeit mehr weiter zu rennen, denn sonst hätten uns die Soldaten gesehen. Wir versteckten uns hinter einem Gebüsch und ich legte meinen Finger auf die Lippen, damit Tariq leise blieb. Die Soldaten stoppten vor unserem Haus. Wir mussten zusehen, wie sie meine Mutter und meinen Vater aus dem Haus zerrten und sie auf die Knie stießen. Der Kommandant sagte etwas zu meinem Vater. Ich spannte meine Ohren an, aber hören konnte ich ihn trotzdem nicht. Mein Vater lief rot an und begann sich zu wehren als plötzlich ein Schuss durch die Stille schellte. Ein roter Punkt bedeckte die Stirn meiner Mutter. Sie fiel um. Ich sah nur rot. Es war als ob mir jemand ein Messer ins Herz rammte und es drehte. Alles ging zu schnell. Mein Vater versuchte mit aller Macht zu ihr zu gelangen, doch seine Kraft lies nach. Der Kommandant stellte sich hinter Papa und packte ihm am Kiefer. ‚CRACK‘ konnte man nur hören. Der Kopf von meinem Vater war in einem unnatürlichen Winkel verdreht. Mir wurde übel. Alles begann sich zu drehen. Auf einmal Totenstille. Ich konnte meinen Herzschlag hören. Zu spät wurde mir wieder bewusst, dass Tariq neben mir saß. Er öffnete seinen Mund um zu schreien. Ich schnappte ihn zu mir und drückte meine Hand fest auf seinen Mund. Er wehrte sich gegen mich und versuchte sich loszureißen. Seine Hand zuckte in meiner und seine Augen waren voller Tränen. Der Schrei blieb in seinem Hals stecken. Ich konnte meinen Bruder nicht in Gefahr bringen.

Wir sahen zu wie die Soldaten die Leichen meiner Eltern auf dem Boden liegen ließen und sich auf dem Weg zurück machten. Da lag es: das Ende meines Lebens das ich bisher kannte.

5 thoughts on “Text 16 – 2018”

  1. Bewegende Geschichte mit bitterem traurigem Geschichtshintergrund, den unsere Großeltern und Eltern teilweise erleben mussten. Sehr gefühlvoll im Szene gesetzt. Gut gemacht!

  2. Such a touching story. How amazing it is to even get such an idea. You put it beautifully into words.

  3. Sehr schön und emotional geschrieben. Es lädt zum weiterlesen ein…

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