[ Ein unerwarteter Aushilfslehrer ]
Es entwickelte sich zu einem stressigen Tag für die Sekretärin des Ulmer Gymnasiums. Die Gründe dafür waren sowohl persönlich als auch beruflich: zuerst hatte sie—Helena—verschlafen und war deswegen zu spät zur Arbeit gekommen; kurz vor dem Anfang des Schultages hatte dann die Physiklehrerin angerufen und gesagt, sie sei krank und müsse zuhause bleiben; und jetzt war der Aushilfslehrer aus dem Nichts aufgetaucht und sie musste ihre Arbeit beiseitelegen, um sich mit ihm zu befassen.
Er trug einen abgewetzten schwarzen Anzug und seine langen weißen Haarstränge hatte er sich grob nach hinten geklatscht, was den allgemeinen Eindruck von kindischer Verwunderung und Aufregung allerdings nicht zu verbergen vermochte. Helena hätte diese nicht zeitgenössische Erscheinung lächerlich gefunden, wenn sie nicht einfach sehr erleichtert (und dazu auch erstaunt) gewesen wäre, dass er so kurzfristig kommen konnte. Schließlich hatte sie dem Herrn Braun—so hieß dieser seltsame Mann—erst vor einer halbe Stunde Bescheid gesagt, er sei benötigt.
Die gestresste Sekretärin hatte jedoch keine Zeit, darüber überrascht zu sein, und erhob sich schnell, um ihm den Weg zum Klassenzimmer zu zeigen. Sie bemerkte, dass der Mann den auf ihrem Schreibtisch stehenden Kalender forschend ansah. Was für ein komischer Herr, sagte sie sich. Die beiden gingen den Flur entlang, die Treppe empor und traten endlich ins Klassenzimmer ein.
„Wir haben nicht erwartet, dass sie vor der Morgenpause kommen können würden, deswegen haben Sie jetzt ein bisschen Zeit vor Ihrem ersten Unterricht“, sagte Helena „haben Sie irgendwelche Fragen?“ Sie rechnete halb damit, dass er sagen würde, er sei gar kein Aushilfslehrer und habe es eilig, das Opernhaus zu finden, um die Frühvorstellung nicht zu verpassen.
Doch er nickte ernsthaft. „Könnten Sie mir bitte zeigen, wie ich diese—“ er deutete vage auf den Computer „—Maschine benütze? Ich habe so ein Modell nie gesehen.“ Sie sah ihn einige Sekunden lang sprachlos an. War das denn alles doch eine Verwechslung? Herr Braun blickte sie aber so aufrichtig an, dass sie sich trotz seiner Frustration dazu geneigt fühlte, ihm zu vertrauen. Sie näherte sich also dem Schreibtisch, um den Computer anzumachen und sich anzumelden.
„So“, sagte sie ihm, nachdem die Homepage geladen hatte. „Er ist ziemlich alt—wir warten gerade auf neuere Ersatzmaschinen—aber er funktioniert noch.“ Sie öffnete den Browser.
„Könnte ich dann darin… recherchieren?“ fragte er mit unsicherem Ton.
Schließlich fing der Herr an, Helena mit diesen dummen Fragen zu nerven. „Natürlich. Damit können Sie alles.“ Er wirkte noch verwirrt, deswegen redete sie weiter mit gezwungener Geduld. „Wie eine PowerPoint vortragen zum Beispiel, oder im Internet schmökern und alles lernen, was es zu lernen gibt.“
Er schien sein Selbstvertrauen wieder zu finden. „Lernen ist Erfahrung. Alles andere ist einfach nur Information“, sagte er und lächelte.
„Dann alle Informationen finden, die es zu finden gibt“, antwortete sie in gereiztem Ton, der Herr Braun schien aber nicht darüber verärgert zu sein.
„Ich danke Ihnen“, sagte er höflich und setzte sich an den Computer, ohne ein weiteres Wort zu sprechen. Dann nahm er einen kleinen eiförmigen Stein, der aussah, als hätte man ihn so oft berührt, dass er glattpoliert worden ist, aus seiner Hosentasche und legte ihn auf dem Schreibtisch, als wäre dieser Stein sein wertvollster Besitz. Helena konnte nicht noch mehr Quatsch ertragen und drehte sich in die Richtung der Tür. Während sie das Zimmer verließ, hörte sie ihn langsam und vorsichtig tippen. Sie konnte ihre Neugierde nicht bezwingen und schaute zurück auf den Bildschirm, wo er gerade geschrieben hatte: Größte Physik-Entdeckungen seit 1955. Mein Gott, dachte sie, was für ein Lehrer muss sein eigenes Fach online recherchieren vor dem Unterricht? Doch ehe Helena darüber weiter nachdenken konnte, läutete es und im Flur wimmelte es auf einmal von Schüler:innen. Mit Schwierigkeit kämpfte sie sich durch die Menschenmenge zu ihrem Büro.
Im Klassenzimmer saß der mysteriöse Herr Braun—hieß er übrigens wirklich so?—noch am Computer und sah den Schirm ernst an. Er hatte schnell gelernt, wie man die seltsame Maschine am besten operiert, und war gleich darin vertieft, sich durch unterschiedliche Webseiten zu klicken. Er bemerkte kaum den ersten Schüler, der durch die Tür kam, nach ein paar Minuten konnte er aber den lauterwerdenden Krach nicht mehr ignorieren und stand rasch auf.
„Äh“, fing er an und war plötzlich ganz nervös. Seine Stimme zitterte, als er die Klasse ansprach. „Guten Tag. Ich bin der Herr Braun und ich…äh… unterrichte euch heute. Könnte jemand mir bitte sagen, was ihr gerade…lernt…in der Physik?“
Nach einer kleinen Pause erhob ein junges Mädchen die Hand. „Den Weltraum. Wir lernen über den Weltraum.“ Der Aushilfslehrer wusste es wohl nicht, aber dieses Mädchen war die Klassenbeste. Sie alleine hatte den Wissensdurst, alle ihre Klassenkameraden wollten bloß die Klausur bestehen, und einige davon machten sich nicht einmal die Mühe, das zu tun.
Ein Gefühl von Panik überkam den Herrn Braun. Beim Recherchieren auf dem Computer hatte er gar nichts über den Weltraum herausgefunden. Er hatte eher über andere Bereiche gelesen… über die Atomistik und die… Atomtechnik… er wollte prüfen, dass keine weitere—Herr Braun schüttelte den Kopf. Er musste sich am Riemen reißen. Er schloss die Augen, atmete tief ein und versuchte, das aufkeimende Gefühl von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu unterdrücken. Es machte keinen Sinn, an solche Eventualitäten zu denken. Dank dieser Stelle wusste er jetzt, dass jene Untat—jener Missbrauch der Physik—bis jetzt nicht wiederholt worden war.
Er fühlte sich noch immer beunruhigt und fragte nach einem Stückchen Kreide. Zu seiner Überraschung reagierten die Schüler:innen mit Lachen auf diese Frage und fingen an zu schwatzen. Offensichtlich meinten sie, er sei kein echter Lehrer und könne sie nicht richtig bestrafen. Sie haben recht, dachte er sich. Ich bin gar kein Lehrer. Ihr kennt aber alle meinen Namen.
„Herr Braun?“ Das Mädchen, das seine Frage vorher beantwortet hatte, stand plötzlich vor ihm. „Hier ist mein Lehrbuch. Sie könnten es gerne durchgucken, wenn Sie wissen möchten, was wir gerade machen. Und da liegen die Tafelstifte—ich meine, die Kreide“.
Er nahm dankbar das Buch und blätterte es rasch durch. Raumforschung. Mondlandung. Teleskope. Mars. So viel ist passiert, dachte er voller Erstaunen. Dann sah er etwas, das ihn endlich zum Lächeln brachte. Die Allgemeine Relativitätstheorie. Das könnte er unterrichten.
Als Helena später vorbeikam, um zu prüfen, dass alles in Ordnung war (denn sie hatte ein unbeschreiblich seltsames Gefühl über den Herrn Braun) hielt sie vor der Tür des Klassenzimmers an und guckte durch das kleine Fenster. Das war wirklich ein Anblick. Der gut gekleidete Mann war wie verwandelt und die Schüler:innen saßen in faszinierter Stille, während er lebhaft sprach und auf der weißen Tafel kritzelte. Sie verstanden eigentlich gar nichts von dem, worüber er so lebhaft redete, aber sie fühlten sich trotzdem inspiriert. Es war die unerklärliche Anziehungskraft des Physikers, die die Aufmerksamkeit der Klasse hielt. Alle waren total hingerissen.
Bei dieser unerwarteten Aussicht erinnerte sich Helena an ein anderes Bild—ein altes schwarzweißes Foto von einem frechen wildhaarigen Wissenschaftler, der sein Lebenswerk auf eine Tafel schrieb. Es kann nicht sein, sagte sie sich. Er ist schon lange tot. Sie schüttelte den Kopf, als ob sie einen Tagtraum loswerden wollte, und ließ das Klassenzimmer und den alten Professor hinter sich.
Die Erinnerung ließ ihr aber keine Ruhe. In der letzten Schulstunde sah Helena einen Kollegen aus der Wissenschaftsabteilung und nahm die Gelegenheit an, ihre Ahnung zu besprechen. Sie grüßte ihn und fragte, ob er den Physikaushilfslehrer schon kennengelernt hatte. „Er ist sehr seltsam“, sagte sie „und das Komischste ist, dass er mich an—“ auf einmal fühlte sie sich sehr dumm „—er erinnert mich an jemanden.“
„Nein, ich hatte heute viel um die Ohren“, antwortete er einfach und ging los.
Helena sah auf ihren Computerbildschirm, ohne den beleuchteten Text richtig zu lesen. Das war alles sehr komisch. Woher kommt dieser Mann überhaupt? Eine kurze Suche durch die Datei enthüllte den Namen der Agentur, die den Herrn gesandt hatte. Sie war keine, mit der die Schule schon zusammengearbeitet hatte. „Geschickte Aushilfslehrer“—so hieß sie. Helena blickte den Namen einige Sekunde lang missbillig an. Das war ein doofer Name, gar nicht professionell und—sie stieß auf einmal einen Seufzer aus. War das ein Wortspiel? Nicht „Geschickte“, sondern „Geschichte“? „Aushilfslehrer aus der Geschichte“? Wenn es die einzige seltsame Sache gewesen wäre, hätte sie diese lächerliche Idee schnell abgelehnt, aber…
Sie öffnete rasch ein neues Fenster und googelte den Namen der Agentur. Es gab unzählbare Suchergebnisse, die meisten von unterschiedlichen Foren. Sie las mit zunehmendem Segen. Tausende von Schüler:innen, die behaupteten, sie wurden von historischen Persönlichkeiten unterrichtet. Es läutete zum Ende des Schultages, doch die Sekretärin des Ulmer Gymnasiums schenkte dem Klang keine Aufmerksamkeit. Leute drängelten sich in die Fluren. Helena las weiter. Die ganze Zeit über sah sie das Bild von vorher: den wildhaarigen Herrn mit den funkelten Augen, der auf der Tafel kritzelte, und die seltsam aufmerksamen Schlüler:innen, die nichts verstanden. Eureka.