Text 11 – 2023

[ Sisi im Sisi Museum ]

„€35, bitte.”

Während ich in meiner Tasche nach dem Geld stöberte, starrte die Kassiererin mich an.

„Wissen Sie, Sie sehen genau wie sie aus“, sagte sie etwas amüsiert. Mein Herz blieb stehen.

„Ähm… wen genau meinen Sie?“

„Die Sisi, natürlich. Es ist unheimlich!“ Sie präsentierte mir die Eintrittskarte, auf der mein eigenes Gesicht prangte.

„Haha… merkwürdig“, sagte ich.

Extrem merkwürdig.

Ich will klar machen, dass es nicht meine Idee war, ein Museum über mich selbst zu besuchen. Tatsächlich wollte ich keinen Fuß mehr in die ganze Stadt Wien setzen, aber meine Tochter hatte Recht: es machte gar keinen Sinn Wien zu vermeiden, wenn man Interrail macht – wir wollten auch nach Prag und Budapest – und ihrer Meinung nach war meine Ausrede nicht gut genug.

„Aber ich war schon mal da.“

„Wann?“ fragte sie.

„Naja, es ist ziemlich lange her…“

„Dann erinnerst du dich wahrscheinlich an nichts!“

Doch, ich erinnerte mich an alles ganz klar. Aber was hätte ich sagen können? „Sorry, ich war in einem vergangenen Leben die Kaiserin und meine Zeit in der Hauptstadt war die elendeste meiner Existenz, mehr als hundert Jahre später bin ich noch traumatisiert. Können wir woanders hinfahren?“ Ja, das hätte sie akzeptiert.

Also fand ich mich in einem Laden namens ‚Mostly Mozart‘ wieder, umgeben von stark überteuerten Pralinen, Feuerzeugen und Brillenputztüchern, die geschmückt waren mit dem hohlen Bild eines Mädchens, das ich einmal sein sollte. Postkarten, Fahnen, Plakatwände: überall starrte mich dieses verdammte Porträt an.

„Ist sie nicht wunderschön?“, seufzte meine Tochter. Ich grunzte zustimmend und wandte mich wieder dem U-Bahn-Plan zu. „Weißt du, sie haben das Original im Sisi Museum – das Gemälde, meine ich.“

„Ach so? Also, wenn wir die U3 nach Ottakring nehmen, dann können wir- …“

„Ich würde sie so gern sehen! Und sie haben ihre Kleider, ihren Schmuck…“

„Aber ich dachte, du wolltest-…“

„Ja, aber ich hab’s mir anders überlegt. Sowas gefällt dir, oder?“

Sowas, ja. Normalerweise besuche ich gern Museen, Galerien, Sehenswürdigkeiten – ich liebe Reisen, ich liebe es, die Welt zu erkunden, nun, dass ich von der Leine gelassen bin. Aber bezüglich dieser spezifischen Sehenswürdigkeit würde ich lieber mein Kopf in einen Eimer voll mit Frischbeton stecken.

„Ja, aber…“

„Bitte, ich habe Geburtstag!“

Ich seufzte. „Tja, dagegen lässt sich nichts sagen.“

Wir standen in einem dunklen Flur, wo die dramatisch beleuchteten Wände zugepflastert mit Zeitungsausschnitten und Filmplakaten waren. Zwischendrin wurde ich sofort von meiner eigenen melancholischen Poesie begrüßt. Die genauen Wörter hatte ich vergessen, ihre Empfindungen hatte ich in die hinterste Ecke meines Kopfes verdrängt. Jetzt schrieb ein Geist mit meiner Handschrift sie wieder vor meinen Augen. Vor den Augen von allen, was mich wirklich nervte. Ich hatte nie die Absicht, dass jemand sie liest. Ich fühlte mich wie ein Teenager, dessen Tagebuch vor der ganzen Schule vorgelesen wird. Von einem Bildschirm weiter den Flur entlang kam die übersüße Stimme von Romy Schneider. „Wie romantisch!“, sagte eine alte Dame, „diese Filme muntern mich immer auf.“ „Schön, dass dich mein Elend so unterhält“, dachte ich mir.

Ich versuchte so schnell wie möglich meine Tochter durch die ‚Sisi Kindheitszimmer‘ zu treiben. Ich wollte nicht bei meinen Eltern verweilen, auch nicht bei meiner Schwester, die das Leben einer Kaiserin so viel besser als ich hätte erledigen können, wenn ich es ihr nicht gestohlen hätte. „Schau mal, Schatz, ich glaube die Kleider und so sind im nächsten Zimmer.“ 

In einem riesigen Kasten aus Glas stand ein noch riesigeres, weißes Krönungskleid aus Seide, Spitze und Samt. Daran erinnerte ich mich wohl. Ich erinnerte mich an das Gewicht der Schleppe, die sich einmal hinter mir wie eine Sträflingskugel ausbreitete. Der Käfig des Reifrocks hielt die Röcke weit weg von meinen Beinen, das Korsett hielt meinen Rücken stramm, sodass meine Wirbelsäule unter der Last der Krone nicht zusammenbrach. „Wieso musste sie immer so jammern, wenn sie all diesen Reichtum hatte?“, murrte ein Mann mittleren Alters. „Guter Punkt, mein Kerl“ , dachte ich. Vielleicht hättest du die Krone ertragen können.

Ich fand meine Tochter vor dem Sternenporträt. „Ich verstehe nicht, warum alle hier so interessiert sind,“ sagte ich leise.

Sie zuckte mit der Achsel. „Menschen mögen das Spektakel.“

„Dafür haben sie alle Habsburger.“

„Ja, aber sie war anders. Ich glaube, sie uns gefällt, weil sie ihrer Zeit voraus war. Wir können uns mit ihr identifizieren.“

„Wieso?“

„Naja, ihre Stärke, ihre Hartnäckigkeit, ihr Wunsch, unabhängig zu sein – sie war die moderne Frau. Als ob ihr Geist aus einer anderen Zeit kam.“

Wir schwiegen beide.

„Sie war auch schön“, sagte sie.

Wir zogen in meinem alten Zimmer voll mit meinen verblassten Besitztümern herum. Fächer, Spiegel, Bücher, Tintenfässer – alles rief irgendeine Erinnerung herbei. Widerwillig musste ich zugeben, dass nicht alle davon schlecht waren. Aber ich fühlte mich trotzdem ganz entblößt, als ob jemand mich aufgeschnitten und meine Organe ins Rampenlicht gestellt hätte. In einem Zimmer war mein Gehirn zu analysieren, in dem nächsten war mein Herz. Hier war meine Privatsphäre für alle ausgestellt, in meinem einzigen sicheren Ort. Ein Museumsführer leitete eine Reisegruppe durch mein Schlafzimmer. „Und wenn ihr mir alle folgt, in diesem Zimmer könnt ihr Sisis Toilette sehen!“

Um Gottes willen.

„Alles okay, Mama?“

Ich blinzelte und bemerkte, dass ich starrte. Wir waren in dem Arbeitszimmer meines Ehemanns, der vor 100 Jahre starb. Sein Schreibtisch war voll mit Bildern: Gemälde und Fotos von mir und unseren Kindern. Die waren auch alle tot, manche davon habe ich nicht nur in diesem Leben überlebt. Meine Tochter ergriff meine Hand und zog mich in die Gegenwart zurück. Ich drückte ihre Hand und lächelte, aber ich war nicht sicher, ob es meine Augen erreichte. „Alles okay. Ich hab‘ dich wirklich lieb, weißt du das?“

„Das weiß ich.“ Sie zeigte in die Richtung der Fotos von mir. „Er muss sie auch wirklich sehr geliebt haben, oder?“

„Ja, das hat er.“

Schlussendlich erreichten wir den Museumsladen. Benommen stöberte ich durch den Schnickschnack, mein Kopf war irgendwo anders, während meine Tochter etwas kaufte. Draußen gab sie mir ein kleines Paket aus Papier. „Für dich“, sagte sie. Drinnen fand ich ein kleines, glitzerndes Sternchen vor, genau wie die, die ich einmal in meinen Haaren trug. „Als Erinnerung“, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. Ein Sternchen, das mitten in der Dunkelheit des nächtlichen Himmels immer weiter strahlen wird.

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