Text 11 – 2020

[ Das mächtige Stück geht weiter ]

-  Aber warum nennen sie es utopisch, als wäre das was Schlimmes? Ich versteh’s nicht. So wie, warum sollten wir nicht mal versuchen, eine perfekte Gesellschaft zu schaffen?

-  Ich denke, worauf Marx hinauswollte, war, dass die Ideen von diesen Leuten nicht in der Realität geerdet waren. Weißt du, es ist alles gut und schön zu sagen, dass du irgendeine ideale Gesellschaft schaffen willst, in der all‘ der Reichtum gleichmäßig verteilt wird und was auch immer, aber wie wird das zustande bekommen? Reiche Leute wollen ja nicht ihr Geld einfach verschenken, oder? So läuft das nicht.

-  Nein, und das hab‘ ich nie behauptet. Aber wie ich schon gesagt hab’, ich bin voll so… ich bin nur nicht sicher, dass die marxistischen Ideen reichen. Was er gesagt hat, dass eine Veränderung von Bedingungen eine völlige Veränderung von Bewusstsein bewirkt … ich weiß nicht …ich bin nur nicht davon überzeugt. Sonst hätten wir das sicherlich schon irgendwann in der Geschichte gesehen, in einem von den Ländern, wo eine Revolution passiert ist, Russland, Kuba, was auch immer, oder? Und das haben wir nicht gesehen, glaube ich.

-  Ja, aber es gibt so viele andere Gründe dafür! Denk nur an all die Probleme, mit denen sie in diesen Ländern umgehen musst-

-  Aber woher weißt du, dass es nicht diese Probleme teilweise wegen einer mangelnden Veränderung von Bewusstsein gab?

-  Weil wir genau wissen, was die Probleme verursacht hat! Und das waren vor allem die Bemühungen-

-  Ach, ich weiß, was du sagen wi-

-  Lass  mich ausreden?

-  Ich weiß, was du sagen willst… nein, du hast recht, natürlich hast du recht. Es ist nur… ach, ich weiß nicht.

 

Sie gingen am Rand des Hafens entlang, in Richtung Fort Saint-Jean. Seine Mauern, normalerweise eine sandbraune Farbe, leuchteten orange im Abendlicht. Das Gedränge war jetzt hinter ihnen: die Menge um die Straßenkünstler, einige in die Vorführung vertieft, andere standen untätig dabei und gingen dann langsam; die wimmelnden Terrassen von Bars und Restaurants, Bier und Bouillabaisse, Lebhaftigkeit und Langeweile nebeneinander gepackt; die Stände, die Souvenirs und Seife verkauften, wofür die Stadt berühmt war, ihre hellen Farben und süßen Duft, die die Köpfe der Vorbeigehenden verdrehten.

 

Vor ihnen lag eine Treppe, die auf und um das Fort führte. Die Laternenpfähle auf beiden Seiten waren mit Aufklebern und Graffiti verputzt. Sie näherten sich der Treppe langsam, Hand in Hand.

 

-  Ich denke nur, was mir an utopischem Denken gefällt, ist die Überzeugung, dass Einzelne Veränderungen herbeiführen können, weißt du? So wie, wenn wir halt eben anfangen könnten, das Ideale zu sehen in dem, was wir haben… das könnte ja der erste Schritt zur Verbesserung im größeren Umfang sein, denkst du nicht? …Was grinst du so?

-  Nichts.

-  Doch! Egal. Du und dieses blöde Grinsen. Weißt du, es sind nicht nur Hippies und Dreamer und was auch immer, die so etwas sagen. Almodóvar denkt, dass es in jeder romantischen Beziehung  ein Element von Utopie gibt.

-  Gut, dass es also keine Romanze in dieser Beziehung gibt, oder?

-  Asshole.

 

Sie waren nun auf der anderen Seite des Forts, der Parkplatz des Museums zu ihrer Linken, und gingen einen Abhang hinunter, der sich zu einer riesigen Fläche öffnete. Da standen ein paar kleine Bäume, die verloren und fehl am Platz inmitten der Betonwüste wirkten, tatsächlich nicht größer als die Leute um sie herum: Familien, viele mit kleinen Kindern, die herumliefen oder Boule spielten, meistens aber Paare oder kleine Gruppen, einige sofort als Touristen erkennbar – Handys hoch erhoben, Rucksack auf – andere weniger. Sie gingen an einer Gruppe von Männern vorbei, die auf einer Bank saßen und scheinbar mitten in einer hitzigen Debatte waren.

 

-  …où ça se passe, sûrement ?

-  En eau peu profonde.

-  Eau peu profonde ? Ben, toujours l’ours, pour moi.

-  Ouais, l’our-

-  Mais putain ! Il pourrait pas atteindre le requin !

-  Ouais, exactement !

-  Mais le requin pourrait pas nager !

-  Arrête !

-  Peu profonde, ça veut dire quoi ?

 

-  Hast du was davon verstanden?

-  Nein, nicht wirklich… wohl was mit Politik zu tun… ich weiß nicht. Mein Französisch ist so aus der Übung.

-  Mm. Willst du dich irgendwo hinsetzen?

-  Klar. Sollen wir zum Ufer?

-  Ja, okay. Sieht ziemlich belebt aus. 

-  Na ja, es ist Freitagabend.

-  Ja, stimmt.

 

Vorbei am Parkplatz konnten sie plötzlich zu der anderen Seite des Hafens hinübersehen. Das Palais du Pharo stand eindrucksvoll und majestätisch oben auf dem Hügel. Dahinter war der Himmel schön, ein zartes Lavendel, mit dem Indigo der Zirruswolken gefärbt, während sich zu ihrer Rechten das Mittelmeer ausstreckte, seine Wellen glänzend in dem fahlen Licht. Es war ein ruhiger Ort, dieser Punkt, an dem  Stadt und See sich trafen, aber es gab dennoch eine gewisse Energie in der Atmosphäre: vielleicht war es der Wellenschlag und das Gemurmel aus dem Hafen, die sich in einer perfekten Synergie zusammenzuschließen schienen und die Luft einen elektrischen Strom, eine unglaubliche Vitalität gaben, als wäre an diesem warmen Sommerabend das Geräusch der Motor des Lebens selbst.

 

-  Wir könnten vielleicht da sitzen? Es gibt ja nicht viel Platz, aber-

-  Ja?

-  Oder, warte, diese Leute gehen. Hier?

 

Zwei Frauen waren gerade von einem großen, flachen Felsen aufgestanden, sie gingen also hinüber und setzten sich, direkt an den Rand des Wassers, knapp außer Reichweite der Wellen, dem Horizont zugewandt, eine leichte Brise auf ihren Gesichtern.

 

-  Hier.

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