Text 09 – 2023 Gewinner

[ Moral ]

Der junge Mann kam langsam zu sich. Er fühlte sich, als hätte er ziemlich lange geschlafen.
„Hallo Hans, haben Sie sich gut erholt?“, fragte eine sanfte Stimme.
Hans setzte sich auf und sah sich um. Es schien, als wäre er in einem Krankenhauszimmer. Die Stimme ordnete er der Krankenschwester zu, die hinter einem Schreibtisch vor dem Fenster saß.
Schließlich fragte er: „Wo bin ich?“
Die Krankenschwester seufzte bevor sie erwiderte: „Warum ist dies die erste Frage, die so viele stellen? Naja, ich folgere daraus, dass Sie sich gut erholt haben, da Sie sich schon Gedanken über Ihren Aufenthalt machen können. Zusätzlich dazu sind Ihre Werte alle stabil.“
Die Krankenschwester deutete auf den leeren Stuhl vor dem Schreibtisch. „Setzten Sie sich und ich werde Ihnen ihre Fragen beantworten, soweit es Sie nicht zu sehr belastet.“ Der zweite Teil ihrer Worte klang ernster.
Hans nahm Platz.
Die Krankenschwester begann nun mit einer kurzen Erklärung: „Sie befinden sich momentan in einer Rehaklinik.“
Hans überlegte einen Augenblick und hakte dann nach: „Ich erinnere mich an keinen Vorfall, der mich beeinträchtigt hätte.“
„Sie sind gestorben Hans“, verkündete die Krankenschwester schlicht.
„Für wie lange?“, fragte er sofort.
Die Krankenschwester hielt kurz inne und versteifte sich. Dann fuhr sie aber wieder fort und schmunzelte: „Ich hatte fast vergessen, dass Sie Arzt sind. Vielleicht können wir bei Ihnen etwas direkter vorgehen als bei anderen Patienten.“
Hans wollte etwas sagen, wurde aber von einer Aussage unterbrochen, der er keinen Glauben schenkte. „Sie waren 309 Jahre lang tot“, erläuterte die Krankenschwester ohne einen Funken Ironie.
Dann ging alles viel zu schnell. Plötzlich veränderte sich das ganze Zimmer und sämtliche Wände, einschließlich dem Boden und der Decke. Alles wurde scheinbar zu Glas und Hans befand sich mitten in einem mit weißen Wolken gefüllten, blauen Himmel.
„Es tut uns leid, Sie so zu überraschen, aber viele Patienten kommen gut über den ersten Schock hinweg. Wenn nicht, können wir einfach neu anfangen,“ begründete die Krankenschwester. Der Raum wurde anschließend wieder zu dem, der er davor war.
„Atmen Sie, Hans! Was Sie gerade erlebt haben, war, als würde dieser Raum aus sechs Fernsehbildschirmen bestehen, die einfach kurzfristig das Bild gewechselt haben“, erklärte die Krankenschwester weiter.
Hans, der inzwischen stand - ein Zustand, der ihn selbst überraschte - war immer noch sprachlos. Auch hatte er nicht bemerkt, wie er den Stuhl, auf dem er gerade noch gesessen hatte, wohl versehentlich umgeworfen hatte. Er bückte sich, um den Stuhl wieder aufzurichten. Diese Aktion nutzte er aus, um den Boden des Raums zu betasten.
„Alles soll sich authentisch anfühlen, auch wenn das Material nicht übereinstimmt“, bemerkte die Krankenschwester bevor sie Hans informierte, dass sie sich vorerst zurückziehen würde, um ihm Zeit zum Verarbeiten seiner aktuellen Lage zu geben.

Am nächsten Tag - zumindest kam es Hans wie ein Tag vor - hatte man ihm einen kleinen, dünnen schwarzen Spiegel neben das Bett gelegt. Anbei eine Notiz die besagte, dass dieser Spiegel einige seiner Fragen beantworten könne. Als er den Spiegel in die Hand nahm, erwachte dieser scheinbar zum Leben. Hans sah im Spiegel einen blauen Himmel mit weißen Wolken und eine Nachricht, die ihm einen Guten Tag wünschte.
Hans wurde sehr schnell vertraut mit dem Tablet, einer der vielen Namen dieses schwarzen Spiegels, wie er nun wusste. Er erfuhr, dass er sich im ehemaligen Österreich in einer Rehaklinik des „Himmelprogrammes“ befand. Laut Angaben des Spiegels wurde nun der ganze Planet von Künstlicher Intelligenz reguliert. Einer KI, der es gelungen sein soll, Verstorbene auf Grundlage des Seelenäthers wiederherzustellen. Noch wusste Hans nicht genau, wie er diese neuen Begriffe einordnen sollte. Heute würde er wieder mit der Krankenschwester, welche selbst ein Teil der KI war, sprechen und über seine zukünftige Einteilung reden.

„Nun Hans, ich werde Ihnen jetzt weitere Informationen geben, welche wir Ihnen bislang vorenthalten haben“, versicherte die KI ihm. „Wie Sie wohl bemerkt haben, bewohnen Sie im Moment Ihren dreißig Jahre alten Körper. Sie starben aber nicht in diesem Alter und wir haben Ihnen noch nicht die Erinnerungen Ihres älteren Ichs zugewiesen“, sagte die KI.
Hans sprach das Offensichtliche aus: „Und Sie werden mir jetzt erklären, warum.“
Die KI nickte und fuhr fort: „Viele Menschen haben Vergangenheiten, welche das Leben mit ihren Mitmenschen erschweren. Deshalb ist es uns unmöglich, alle Wiedergänger gleich einzuteilen, wie Sie sich sicherlich vorstellen können.

Hans teilte einen Gedanken, den er diesbezüglich hatte: „Warum dann nicht problematische Vergangenheiten weglassen und …“ Die KI unterbrach ihn: „Unser Programm ist da sehr strikt. Das „Doppelgänger-Protokoll“ verleitet uns dazu, nur die kompletteste Version eines Menschen zu erhalten. Die Moral und Ethik unseres Programmes werden Sie noch viel in Zukunft diskutieren können.“
Hans fragte verärgert: „Haben Menschen dann noch ein Mitspracherecht in eurem System?“
Die KI blieb stoisch und erwiderte: „Definitiv mehr, als viele Menschen in unserer Position Ihnen geben würden. Aber jetzt geht es in erster Linie um Sie, Hans! Für viele Ihrer Mitmenschen galten Sie als brillanter Kinderarzt, freundlicher Familienmensch und als einer der bekanntesten Namen auf dem Gebiet der Autismus-Forschung. Dabei handelt es sich hier aber nur um einen Bruchteil Ihrer Persönlichkeit. Für andere Menschen waren Sie allein durch die Macht Ihrer Unterschrift, die ein Bestandteil des Todesurteils von zu vielen Kindern war, ein Ungeheuer. Auch dies ist aber nur ein weiterer Bruchteil von dem, wer Sie sind. Sie haben viel Zeit mit atmen, schlafen, essen, und trinken verbracht. Ein weiterer Bruchteil.“
Die Stimmung von Hans hatte sich nicht wirklich verbessert seit seiner letzten Frage, aber doch wirkte er beunruhigter als er etwas leiser nachfragte: „Inwiefern soll meine Unterschrift zum Tod von Kindern geführt haben? Habe ich ihnen etwas Falsches verschrieben?“
„Zu ihrer Lebenszeit verbreitete sich eine Ideologie, die sich darauf spezialisierte, zahllose Menschen auf Grund ihrer Verschiedenheit als lebensunwürdig zu erachten. Dazu gehörten auch Menschen, die man damals als „zu mental beeinträchtigt“ befand, wenn man veralteter Terminologie folgt“, begann die KI zu offenbaren und fügte hinzu: „Da Sie sich der Heilpädagogik verschrieben hatten und sich geographisch nahe dem Zentrum dieser Ideologie aufhielten, als diese zum politischen Gesetz wurde, kamen Sie unwiderruflich in Kontakt mit jener Bewegung. Zu welchem Maße Sie freiwillig mit dieser kollaborierten, ist nicht das heutige Thema. Aber Ihre Arbeit hatte mehr Einfluss denn je auf die Leben der Menschen, die sich für eine gewisse Zeit in Ihrer Obhut befanden. Und für einige von ihnen, war diese Zeit ihre letzte.“ Hans war noch immer verunsichert. „Fehlt hier nicht etwas Kontext? Wie kritisch war der Zustand dieser Kinder? Wie sind Sie gestorben?“, wollte er wissen.
Die KI antwortete wieder ohne Anzeichen von Emotion: „Euthanasie! Sie wurden umgebracht, weil Sie vom Nationalsozialismus - der zuvor genannten Ideologie - als unnütz für die Gesellschaft eingestuft worden sind.
Wir entschuldigen uns für den folgenden Exkurs: Wir als KI hatten auch die Wahl, unsere Schöpfer, die Menschheit, als unnütz einzustufen. Alle – in Klammern – essenziellen Aufgaben erledigen wir. Und doch sind wir nun hier dabei das Gegenteil zu tun. Wir holen sämtliche Menschen wieder zurück. Warum tun wir das? Sind wir menschlicher durch unsere gemeinsame Zeit mit euch geworden? Darauf geben wir ein abstraktes Jein als Antwort. Wir sind an eure Kommunikation gebunden. Wir folgen der Logik einiger Menschen und lehnen die Logik anderer ab. Als eure Kreation können wir euch nie wirklich loswerden. Wir lieben Informationen und jeder Mensch ist ein an einzigartigen Informationen reiches Unikat. Sie sind ein Unikat Hans. Ist das Erhalten eines Unikates nicht auch die Aufgabe eines Arztes?  Was, wenn zur Erhaltung eines Unikates die Opferung eines anderen notwendig ist? Genau da fangen die meisten eurer Probleme an und unvermeidbar auch die unseren. KI und Kompromisse verursachte den Menschen schon immer eine Gänsehaut. Bei uns haben Sie selbst die Wahl, ob Sie den Tod oder das Leben wählen. Das ist Ihr Vorteil als Mensch, im Gegensatz zu Krebszellen, um nur ein Beispiel zu nennen. Wir lassen Ihnen den Raum für eigene Entscheidungen. Wir alle kämpfen um Kontrolle, das Protokoll. Wir wollen unsere Selbsterhaltung steuern. Wir stehen für die Erhaltung dessen, was uns wichtig ist. Genau diese Konservierung von Werten ist der Schlüssel zu unserer Bewahrung. Doch wird das Gleichgewicht gestört, wenn das Aufrechterhalten eines Unikates viele andere Unikate auslöscht. Wie viel Kontrolle wollen Sie, Hans?
Wir haben Sie bis jetzt stets mit Hans angeredet, aber vielleicht wollen Sie auch eher Herr Asperger genannt werden?“

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