Text 08 – 2019 Publikumsliebling

[ Reformkleid ]

Samstagabend. 18 Uhr. Ich fing mit dem Lernen um 9 Uhr an und ich lerne immer noch. Eine SMS von meiner Mutter kommt: ”Arbeite nicht so hart. Genieß dein Wochenende. Hab dich lieb”. Ich könnte mich darüber beschweren, dass ich um 18 Uhr am Samstag lernen muss; dass die Uni so viel von uns erwartet. Ehrlich gesagt ist es mir aber egal. Ich liebe das, was ich studiere, und das Lernen ist das Einzige, was ich im Griff habe. Trotzdem weiß ich, dass ich nicht den ganzen Abend beim Lernen verbringen kann; dass man eine Pause braucht; dass meine Mutter Recht hat. Sie hat immer Recht. Morgen ist ein weiterer Tag und die Arbeit wird auf mich warten, wie sie immer treu auf mich wartet. Ich werfe einen letzten Blick auf das Lehrbuch, das vor mir auf dem Tisch liegt: Das Leben und Werk von Gustav Klimt. Ich überfliege seine Seiten ein letztes Mal und ertappe mich dabei, bei einem Foto von Emilie Flöge zu verweilen. Sie trägt ihre typische Kleidung: Ein weißes Reformkleid, in dem sie selbstsicher, aber keinesfalls arrogant dasteht. Sie zieht die Schultern nicht hoch. Sie sieht die Kamera direkt an. Sie traut ihrem Lächeln. Ich kann nur davon träumen, wie sie zu sein, und so träume ich.

Eine andere SMS weckt mich aus meinem Tagtraum auf. Diesmal von einem Freund von mir in der Chatgruppe. ”Shauna hat heute Geburtstag, wir gehen aus, kommt ihr mit?”. Mein Handy leuchtet wieder auf, bevor ich überhaupt die Chance habe, die Nachricht zu öffnen. “Ich komme”, “Ich auch!”. Ich bin dran. Obwohl ich wirklich keine Lust darauf habe, weiß ich, dass ich gehen sollte. Jedes Wochenende erfinde ich irgendeine Entschuldigung: Ich fahre nach Hause, bin leider krank, habe zu viel zu tun. Ich kann nicht sagen, woran es wirklich liegt. Ich kann nicht anfangen zu erklären, warum ich lieber allein in einem Hausmantel in meiner Wohnung rumhängen würde als mich herauszuputzen oder auszugehen. Ich schreibe zwei Wörter, ja und gerne, und hoffe, dass ich mich nicht irre. Es gibt eine begrenzte Anzahl von Malen, wenn man ‘Nein’ sagen kann, bis man nie wieder eingeladen wird, und ich brauche die Einsamkeit nicht. 18 Uhr 20 und ich bekomme eine Antwort: ”Super! Dann hole ich dich um 20 Uhr ab, wir können zusammen laufen”. 20 Uhr bedeutet, dass ich etwa anderthalb Stunden habe, um mich darauf vorzubereiten.

Ich fange mit der Dusche an. Ich entkleide mich und versuche auf dem Weg zum Badezimmer, den bohrenden Blick des Spiegels zu ignorieren. Dann ignoriere ich alles, was ich in der Dusche spüre. Die Fettfalten auf dem Bauch. Die Pickel auf meinen Schultern. Ich ignoriere sie, obwohl sie mir entgegenschreien. Ich wasche mich und dann beginne ich, mich zu rasieren. Alle Haare müssen raus, auch wenn es meine Beine kratzig macht, auch wenn Blut auf den Boden der Dusche tropft, auch wenn die Haare hygienisch sind, weil sie da sein sollten. Natürlich bleiben die Haare auf meinem Kopf – die einzigen Haare an Frauen, die tolerierbar sind. Manchmal träume ich davon, mir den Kopf zu rasieren. Ich steige dann aus der Dusche und ersticke die Falten und Pickel mit einem Handtuch. Ich atme tief. Ich sehe mich selbst im Spiegel des Badezimmers an und fange an, mich zu schminken. Die Pickel auf meinem Gesicht sind ärgerlich, aber sie schweigen unter Schichten von Grundierung und Concealer. Ich kämme mir die Haare, kämme und kämme, obwohl es wirklich nicht mehr notwendig ist. Ich verschiebe es, mich dafür zu entscheiden, was ich heute Abend trage. Um 19 Uhr 20 habe ich keine andere Wahl.

Ich gehe zum Schrank, nehme einen Rock und ein Kleid und probiere sie an. Der Rock sieht nicht so schlecht von der Vorderansicht aus, aber wenn ich mich herumdrehe, sehe ich im Spiegel, dass meine Hinterbacken auf mich schielen. Hat mir dieser Rock schon einmal gepasst? Werde ich wirklich so dick? Ich ziehe das Kleid an. Diesmal ist mein Hintern bedeckt aber Fettfalten steigen neben meinen Schultern hinaus. Die feuerrote Rückenakne steht in krassem Gegenteil zum weißen Kleid. Ich gebe auf und ergreife die Hose, die ich fast jeden Tag trage. Das Beinerasieren war eine Zeitverschwendung. Ich nehme eine Bluse und zusammen mit der Hose sieht sie gut genug aus. Ich sehe mich zufrieden im Spiegel an und beginne, meine Tasche zu packen: Portemonnaie. Schlüssel. Vergewaltigungspfeife. 19 Uhr 40 und ich bin bereit. Ich bin bereit, bis ich mich noch mal im Spiegel sehe. Zwei Achselschweißflecken sind unter meinen Armen erschienen. Ich verabschiede mich von der Bluse. Mädchen schwitzen nicht. Scheinbar. Ich lege mein Handy auf den Schreibtisch, setze mich hoffnungslos auf mein Bett und schlage meine leichte Decke um mich, als ob sie ein Schutz vor der Welt wäre.

Meine Freunde kommen bald, aber mir dreht sich alles im Kopf. Was mache ich hier eigentlich? Und für wen? Mag ich diese Kleidung überhaupt? Mag ich die Haare und das Schminken? Mag ich, dass mein Körper vorpubertär haarlos ist? Gehört mir mein Körper? Ich sehe auf meinen bedeckten Körper herab und schüttele den Kopf. Ich stehe auf, um mein Handy zu holen. ”Es tut mir leid, fühle mich ein bisschen krank. Viel Spaß noch!”, arbeite ich im Kopf aus. Aber bevor ich mein Handy aufheben kann, lenkt das Buch neben ihm mich ab. Ich erinnere mich an das Bild von Emilie Flöge und öffne das Buch schnell. Ich greife meine Decke und fange an, sie um mich zu schlingen. Ich starre Emilies Kleid immer noch an und versuche, die Ebben und die Fluten des Materials zu verstehen, wie ich es als Kind staunend am Meer machte. Ich ergreife einen Gürtel, Haarreifen und sogar die Schnürsenkel meiner Turnschuhe und fertige ein Reformkleid im Stil von Emilie aus meiner Decke. Ich nähere mich dem Spiegel und schließe meine Augen. Die Decke sitzt so locker, dass ich die Falten meines Körpers gar nicht spüre, wenn ich mich bewege. Ich öffne meine Augen und lache laut auf. In diesem Kleid fühle ich mich wohl. In diesem Kleid fühle ich mich, wie ich mehr als ein Körper bin. In diesem Kleid fühle ich mich befreit.

Ich gehe wieder zum Buch und lächele Emilie an. Ich nicke, schließe es, setze mich auf mein Bett und warte auf das Klingeln der Türglocke.

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