Text 04 – 2020

[ Das Elixier der Freude ]

Sie stellte das Glas auf den Tisch. Sie hatte einen ausdrucklosen Blick. In der Ecke liegt altes Spielzeug, das verstaubte. Die Kinder spielen nicht mehr länger. Die Puppe, die noch vor einiger Zeit so viel Freude gebracht hatte, ist jetzt nutzlos, sie kann und wird kein Vergnügen bringen. Sie schloss die Tür des Hauses, das jetzt nur noch ein Raum war, den man bewohnen konnte. Die Überreste, die noch dort waren, bleiben nur da, weil sie immer dort gewesen waren. Entlang der Straßen waren Bäume, die Blätter wirbelten herum. Es war ein bezaubernder Anblick, aber sie merkte die Schönheit der Blätter nicht. Ihr Spaziergang zur Arbeit war kurz, als sie ankam, guckte sie auf die Uhr, sieben Uhr. Sie ging zu ihrem Fließband und begann die Flaschenverschlüsse auf die Flaschen zu schrauben. Sobald sie einen Flaschenverschluss angeschraubt hatte, kam ein neuer. Die Arbeit war lang und monoton. Die Fabrik wird mit Kameras überwacht und hinter dem Bildschirm saß ein Mann, ungefähr 40 Jahre alt und schaute zu. 

„Komm schon, lass das in Ruhe, wir haben jetzt wichtigere Dinge zu tun,“ die Frau, seine Frau, packte ihn am Arm und zog ihn aus dem Zimmer. 

„Zum Geburtstag viel Glück, zum Geburtstag viel Glück, zum Geburtstag zum Geburtstag, zum Geburtstag viel Glück!“ Das Paar sang und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der jungen Frau aus. 

„Alda, ich kann nicht glauben, dass du schon 18 Jahre alt bist. Wo ist die Zeit ihn? War es nicht erst gestern, dass du so groß warst?“ Die Frau hob die Hand in die Hüften und eine einzelne Träne rollte über ihre Wangen. Sie machte keinen Versuch sie abzuwischen. Sie hinterließ einen Fleck in ihrem ansonsten makellosen Make-up.

„Mutti, ich liebe dich.“

„Bist du bereit für dein Geschenk?“, fragte der Vater. „Schließ deine Augen.“

Sie schloss fest die Augen, wie ein Kind, das sich etwas wünscht.

Als sie sie öffnete, blickte sie auf eine Überwachungskamera.

„Ich verstehe nicht Vati!“

„Diese Fabrik ist nur eine von vielen, die jetzt dir gehört und morgen werden wir sie besuchen. Alles Gute zum Geburtstag!“

Sie keuchte. „Dahin gehen? Im Ernst?“

„Ja, kannst du. Ich habe meine Beziehungen spielen lassen und ich habe schon das Einreisevisum beantragt.“

„Danke, danke, danke!“, sie quiekte, „Meine Freundinnen werden es nicht glauben, sie werden so neidisch auf mich sein!“

Es ist schwer, den Bezirk zu betreten. Ihr Vater jedoch hat Geld, Einfluss und sorgt für Recht und Ordnung.

Der Tag dauerte ewig lang. Als ihre Freundinnen kamen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, diskutierte sie mit ihnen wie es wohl in dem Bezirk sei. 

„Ich stelle mir vor, dass…“ oder „ich habe von jemanden gehört, dass…“, waren die Sätze, die verwendet wurden, aber niemand wusste es genau, alles war nur Spekulation. Das Thema beanspruchte sie für den größten Teil des Nachmittags, aber auch als sich die Gesprächsthemen änderten, konnte Alda sich auf nichts anderes konzentrieren. Die Freundinnen gingen schließlich und umarmten sie zum Abschied.  

Alda lag im Bett und dachte an den Bezirk. Sie hat darüber ein bisschen in der Schule und von ihrem Großvater gehört. Als sie klein war, hat sie ihm nicht wirklich zugehört, aber dann haben sich ihr Großvater und ihr Vater gestritten, über was, hatte sie noch immer keine Ahnung, und jetzt hat sie seine Stimme seit vielen Jahren nicht gehört. Was sie wusste war, dass es früher viel Unruhe gab, man konnte nicht auf die Straße gehen, ohne Angst vor Rebellen zu haben. Die Leute waren unglücklich, weil sie eifersüchtig auf andere waren. Sie mochten es nicht, dass es Geschäfte gab, wo sie nicht einkaufen konnten oder Häuser, die viel schöner als ihre eigenen waren. Für die Regierung war es unerträglich, die Menschen in Not zu sehen und sie wollte deren Leid nehmen. Deshalb hatte sie entschieden, die Reichen und die Armen zu trennen. Die Armen mussten dann nicht leiden, indem sie neben den Reichen und all ihren Besitztümern lebten. Natürlich hatte das geholfen aber wie immer, die Regierung wollte noch mehr für das Glück der Menschen tun. Und deshalb hat sie das Elixier der Freude erfunden. Das Elixier kann in jedes Getränk gemischt werden, ein einziger Tropfen genügt, der die negativen Gedanken loswerden lässt. Dank der Regierung müssen die Leute nie wieder schlechte Gefühle wie Neid fühlen. Und morgen wird sie das Elixier mit eigenen Augen sehen, „was für eine Ehre“, dachte sie als sie langsam die Augen schloss.

Am Morgen durchsuchte sie verzweifelt ihren Kleiderschrank. Sie wollte einen guten Eindruck in der Fabrik machen. Sie hat ein smaragdgrünes Kleid gewählt und hat eine Vogelbrosche angesteckt. Der Vogel war ein Papagei, sie hat diesen Vogel schon immer geliebt, weil jeder, den sie hatte, eine andere Persönlichkeit hatte, aber immer fröhlich war. So hat sie sich die Leute in dem Bezirk vorgestellt, ohne Negativität, immer fröhlich. 

„Beeil dich, wir müssen gleich gehen“, sagte der Vater.

„Ja, ich komm schon“, und sie rannte die Treppe hinunter.

Die Kugel, oder der Zug, wie er offiziell heißt, war fast leer. Er ging nur zweimal am Tag, am Morgen und am Abend. Der Großteil der Fahrt war im Dunkeln, weil die Gleise unter der Stadt liegen. Plötzlich begann es heller zu werden und sie sah ihn zum ersten Mal, den Bezirk. Es war ruhig, auf der Straße. Es gab keinen Lärm, aber viele Leute liefen die Straßen entlang. Jeder ging seinen eigenen Weg, ohne auf die anderen zu achten. Die Fabrik war nicht weit weg vom Bahnhof und sie und ihr Vater gingen zu Fuß. Niemand sah sie an, sie war genervt, ohne Zweifel trug sie die schönste Kleidung auf der Straße. Das Gleiche passierte auch in der Fabrik, sie verstand es nicht. Ihr Vater stellte sie allen anderen vor, aber sie zeigten keine Reaktion. Das Handy ihres Vaters klingelte.

„Ich muss da rangehen,“ sagte er, “du kannst dich gerne umschauen!“

Sie ging von der Plattform, die die Fabrik überblickte, hinunter zu den Arbeitern, wo das Wasser abgefüllt wurde. Das Trommeln der Maschinen wiederholte sich. Sie beobachtete es, einen Tropfen des Elixiers, zwei Tropfen, drei Tropfen, vier Tropfen, fünf Tropfen und dann kam das Wasser. Ihr fielen die Augen eines Mädchens auf, das in der Nähe arbeitete. Für eine arme Person war sie ziemlich hübsch. Ihr rotes Haar steckte hinter ihrem Ohr. Das Mädchen sah ähnlich alt aus wie Alda und weil sie auch schön war, fühlte Alda eine Affinität zu ihr und lächelte sie an, aber es wurde nicht erwidert. Alda wandte sich verlegen ab und spielte auf ihrem Handy bis sie plötzlich das Geräusch der Maschine nicht mehr hörte. Sie drehte sich um. Das Blut sprudelte aus der Hand des Mädchens heraus, aber das Mädchen sagte nichts und die anderen arbeiteten weiter. 

„Oh mein Gott, bist du okay? Was kann ich für dich tun?“

„Es ist okay, ich fühle gar nichts.“

„Was meinst du, ‚nichts‘? Du hast deine Hand sehr schwer verletzt.“

„Ich meine, ich spüre die Verletzung nicht.“

Alda legte die Stirn in Falten. Ihre Augen blickten zu den Arbeitern und dann zum Elixier. Sie rannte zu einem der Arbeiter und trat ihm. Sein Bein knickte leicht ein, aber sein Gesichtsausdruck war ausdruckslos. Sie schlug einen anderen, sie zog an seinen Haaren. Alle waren gleich. Sie fühlten nichts. Sie konnte es nicht glauben. Sie hatten kein Elixier erfunden, das alle negativen Gefühle loswird, sondern alle Gefühle. Sie rannte nach draußen, ihr Vater sprach gerade mit zwei Männern in Anzügen. 

„Vater, Vater, sie fühlen nichts, sie fühlen absolut nichts. Es gibt da ein Mädel, das sich die Hand abgetrennt hat und sie hatte keine Reaktion und die andere auch nicht!“ 

Die Unbekannten tauschten Blicke aus. 

„Bitte lasst mich mit ihr reden“, sagte der Vater zu ihnen.

„Alda, du musst verstehen…“

„Vater, hast du, hast du davon gewusst?“

„Alda bitte!“

 „Nein es kann nicht sein. Es ist nicht möglich.“

„Es ist besser für sie, früher waren sie so unglücklich, jetzt sind sie es nicht mehr. Wir helfen ihnen.“

„Aber du hast immer gesagt, dass sie keine negativen Gefühle empfinden. Du hast gelogen. Lass mich verstehen was du sagst, ist es besser für sie, nichts zu fühlen, als etwas Gutes oder Schlechtes zu fühlen?“

„Schatzi, du hast keine Idee wie es vorher war!“

„Ohne Gefühle sind wir nichts. Du hast sie nicht einfach des Guten oder Schlechten beraubt, du hast ihnen die Menschlichkeit weggenommen. Ich werde das nicht erlauben!“ 

Die beiden Männer packten sie. Der Vater flehte. Einer der Männer stach ihr eine Nadel in den Hals. Sie wurde schlapp. 

Als sie ihre Augen öffnete, erkannte sie nicht wo sie war, aber sie fühlte keine Angst. In der Ferne sah sie einen Mann, der aussah wie ihr Großvater.

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