Text 01 – 2023

[ Marie Therese ]

Eins. Zwei. Drei. Los! Ich drehe mich um. Luisa steht neben mir, oder versucht, stehen zu bleiben. Wir haben schon vierzehn Shots gehabt und ich glaube, wir werden nicht mehr lange aufrecht stehen. Rechte Hand raus, linke Hand raus. Mir fällt ein, dass vierzehn Shots was kosten. Rechte Hand dreht sich, linke Hand dreht sich. Vielleicht kosten sie viel. Rechte Hand zur linken Schulter, linke Hand zur rechten Schulter. Ich nehme mein Handy aus meiner Tasche, öffne meine Raiffeisen- App. Rechte Hand zum Kopf, linke Hand zum Kopf. Scheiße. Nur noch fünfzig Cent verfügbar. Rechte Hand zur linken Hüfte, linke Hand zur rechten Hüfte. Ich schreie in Luisas beleuchtetes Gesicht. „Hast du einen Zehner für das Taxi? Ich hab‘ kein Geld mehr, die fucking Shots hätten fünf Euro kosten müssen!“

„Nee, ich hab’ nichts mehr nach dem verdammten goldenen Kleid, das wir gestern gekauft haben!“

„Ach so, und wolltest du mir nicht erzählen, dass du noch hundert Euro auf dem Konto hattest? Na toll, eine ausgezeichnete Freundin bist du!“

„Du warst es doch, die das Kleid ganz dringend wollte! Egal, wir können jetzt nichts machen. Willst du das Kleid? Ich hab‘ es in der Garderobe liegen lassen.“

„Ja sicher will ich das Kleid! Der ist das beste Kleid der Welt, Lulu, und du bist die beste Freundin, sorry, dass ich dich angeschrien habe.“

„Alles klar, Schatz.”

Weiter geht’s mit dem Macarena. Rechte Hand zur rechten Hüfte, linke Hand zur linken Hüfte. Und Shimmy. Lulu kommt mir näher, küsst mich. Das goldene Kleid ist tatsächlich das beste, das ich je gesehen habe.

Meine silberne Federboa schimmert unter den Neonlichtern. Ein paar Jungs schauen mich alle zwei Minuten an, bekommen aber meinen Blick nicht. Sie haben ihn nicht verdient. Lulu scheint so happy zu sein, es ist schön, sie happy zu sehen. Es ist nicht immer so.

Langsam fangen die Leute an, nach Hause zu gehen. Gegen fünf Uhr morgens stolpern Lulu und ich aus dem Club, laut und lachend. Eine Stimme brüllt aus einem Haus in der Nachbarschaft, versucht uns zu sagen, dass wir leiser sein könnten, wenn wir so betrunken durch die Straßen gehen. Ich bin mir nicht sicher, ob das möglich wäre. Lulu und ich sind nicht nur die lautesten Menschen, die ich kenne, aber auch die stursten. Vielleicht bedeutet das, dass wir unangenehm sind. Es ist mir Wurst. Was mir wichtig ist, ist meine Zukunft als am besten gekleidete Frau in Österreich. Ich will immer in Österreich bleiben. Fremdsprachen, oje. Ein paar englische Wörter sind schick, eine ganze andere Sprache… klingt fürchterlich.

Am nächsten Morgen wachen wir mit unheimlichen Kopfschmerzen auf. Was für eine Überraschung. Ich schaue aus dem Fenster von meiner bequemen Position im Bett, gucke die Vögel an. Was für Vögel sind das? Das könnte ich nicht sagen. Was ich sagen könnte, ist, dass ich gerade keine Anruf von meiner Mama bekommen möchte. Ihr gefällt es nicht, wenn ich so viel trinke. Ihr Bruder hat auch viel getrunken. Ich habe aber keinen guten Grund, den Anruf abzulehnen, also beantworte ich ihn. „Mama?“

„Guten Morgen, was hast du heute vor?“

„Äh... nichts, glaub ich. Wieso?“

„Wir brauchen dich zu Hause. Wir müssen etwas diskutieren.“

„Wow, scary. Kannst du mir die spannenden Details geben?“

„Nein, du musst einfach so bald wie möglich da sein.“

Meine Mama ist kein warmherziger Mensch. Ich bin für sie nichts Außergewöhnliches. Dass sie mit mir ganz dringend sprechen muss, persönlich, ist kein Alltagsding. Ich fürchte, dass ich dieses Mal keine Chance mehr habe. Das Casino am Freitag war keine gute Wahl. Die Fotografinnen vom Grazer hatten eine große Nacht mit mir. Wenn ich zu Hause ankomme, fühl‘ ich mich weniger gut. Meine Mutter ist immer streng gewesen, nichts geht an ihr vorbei. Sie wird auf jeden Fall die Fotos gesehen haben. Ich verziehe mein Gesicht, wenn diese unangenehmen Gedanken durch meinen schmerzenden Kopf ziehen. Ich vermisse Lulu. Wenn ich in das Büro meiner Mutter eintrete, guckt sie aus dem Fenster, ich kann ihr Gesicht nicht sehen. Sie schaut mich nur sehr ungern an. Sie glaubt nicht an Gefühle oder Augenkontakt.

„Also. Wir haben einen neuen Plan für dich. Anscheinend ist es für dich zu schwierig, weg von den Paparazzi oder vom Alkohol zu bleiben. Wir haben uns entschlossen, dass du nach Frankreich fahren wirst. Um eine gute Ausbildung zu bekommen. Ein Auslandsaufenthalt wird dir guttun, du brauchst mehr Ahnung von der Welt.“

Oje. Es ist schlechter als gedacht. „Das kann nicht dein Ernst sein? Frankreich? Ich spreche gar kein Französisch!“

„Du wirst es lernen.“

„Willst du mich nicht sehen?“

„Nur manchmal. Und nicht, wenn du so schrecklich nach Alkohol riechst.“

„Naja, ich hätte mich geduscht, wenn du mich nicht sofort hierher bestellt hättest.“

„Ein Mitglied dieser Familie sollte sich immer von seiner besten Seite zeigen. Auch wenn es nicht viel Zeit gibt.“

„Du bist doch meine Mutter, wieso musst du immer so hart zu mir sein?“

„Ich wäre keine gute Mutter, wenn ich nichts gegen deinen schrecklichen Lebensstil machen würde. Du wirst eine Universität in Paris besuchen, es ist eine wunderbare Gelegenheit. Du solltest froh sein, dass du nicht weiter weg fahren musst.“

Ich habe das Gefühl, dass ich nichts sagen kann, um die Meinung meiner Mutter zu ändern. Der Aufwand lohnt sich nicht, wenn ich weiß, dass ich keine Wahl habe. Alles scheint plötzlich überfordernd. Ich will nicht weinen, ich weine vor meiner Mutter nicht. Ihr gefällt es nicht, wenn ich weine. Sie sagt, es sei eine Schwäche. Ich sage, es ist Teil des Lebens, sich traurig zu fühlen. Sie sagt, ich sei blöd. Vielleicht sollte ich gegen meine Mutter eine Revolution anfangen.

Paris ist eigentlich nicht so schlecht. Die schlechteste Sache ist, dass Luisa nicht da ist. Sie hat eine Arbeit in Graz und kann mich deswegen nicht oft besuchen. Am ersten Tag des Semesters gehe ich zu einer Vorlesung über die weltweite Armut. Meine Mutter hat für mich ein Studium in Politik ausgewählt, sie sagt, es sei eine gute Idee zu lernen, wie die Welt eigentlich funktioniert. Ich sage, sie funktioniert wegen Partys, Drogen und Alkohol. Die einzigen drei Sachen, die wertvoll sind. Ich vermisse lange Nächte im Club mit Luisa. Meine Freiheit. Hier muss ich zu jeder Vorlesung gehen, sonst kriegt meine Mutter eine Nachricht von der Uni und es bricht die Hölle los.

Nach zwei Monaten habe ich genug Französisch gelernt, um ein Drittel des Inhalts der Vorlesungen zu verstehen. Nicht ideal, aber es könnte schlimmer sein. Heute erfahren wir, dass die Welt unglaublich ungerecht ist. Am Ende der Vorlesung bekomme ich ein Flugblatt von einer anderen Studierenden. SOZIALISMUS IST DIE ANTWORT, lautet die Aufschrift. Ich bin mir darüber nicht sicher, aber ich habe kein Sozialleben, also entscheide ich mich, zum Stammtisch am Freitag zu gehen. Eine attraktive Frau mit schönen dunklen Haaren grüßt mich an der Tür der Bar. Anscheinend treffen sich Sozialist*innen normalerweise an einem Ort, wo es Bier gibt. Bier ist wichtig für die Politik, erfahre ich. „Bonsoir“, sagt sie, „das Treffen findet im Untergeschoss statt.“ Toll. Ich liebe es, unter der Erde zu sein. Wie ein Wurm. Ein langer, grauer Wurm. Lecker.

Nach ein paar Minuten im warmen, stickigen Raum, in dem das Treffen stattfindet, beginnt ein junger Mann zu reden. Nach einer halben Stunde habe ich das Gefühl, dass dieses Sozialismus-Ding ein bisschen ernsthafter ist, als ich früher gedacht hatte. Waffen kommen ins Gespräch, irgendein Krieg muss gewonnen werden? Gegen die Reichen? Scheiße, bin ich der Feind? Es ist mir nicht ganz klar, was der Plan ist, ich verstehe ja nicht alles. Am Ende des Treffens kommt die hübsche Frau von der Tür, um sich von mir zu verabschieden. „Wie war’s? Kommst du nächste Woche wieder?“

„Ja... ich glaube schon...“

„Die Revolution klingt gut, gell? Kannst du sie hören?“

„Ähm... nein, nicht wirklich. Aber das Bier war gut und ich muss mehr Französinnen kennenlernen.“

„Dann bist du hier richtig. Bis nächste Woche!“

Die nächste Woche bin ich erkältet und deswegen gehe ich nicht zum Stammtisch der Sozialist*innen. Stattdessen liege ich in meinem Bett und denke an all die Sachen, die ich in Frankreich anders mache. Erstens trinke ich viel weniger. Ohne Luisa macht das Betrunkensein nicht so viel Spaß. Zweitens gehe ich weniger in Clubs. Jetzt, wo ich weiß, dass der Hedonismus ein Form der Wirklichkeitsflucht ist und keine Lösung für das Leben, scheint es blöd. Vielleicht hatte meine Mutter recht. Plötzlich klingt die Türklingel. Ich stehe auf, gehe zur Tür. „Wer ist da?“, frage ich.

„Halli hallo!“, kommt die Antwort. Die Frau vom sozialistischen Treffen. „Du musst auf jeden Fall mitkommen. Die Revolution ist im Gange!“ Ich öffne die Tür.

„Was? Was für eine Revolution ist das genau?“

„Wir fahren zum Nationalrat in Wien, wir müssen jetzt los und du musst mitkommen! Ich sehe die Lust auf die Revolution in deinen Augen!“

„Ähmm.. ok, ja, ok, ich habe schließlich nur eine Erkältung!“

Sie schleppt mich aus der Wohnung und wir steigen in ihr Auto ein. Ein sehr schönes, blaues Auto. Mehr kann ich dazu nicht sagen, Autos sind nicht mein Ding. Drei Stunden später stehen wir vor dem Nationalrat und unsere Revolution geht los. 

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