[ Ich will meine Träume nicht!
/ Aldo Ruggiero ]
Alle haben Träume.
Seitdem man ein Kind ist, pflegt man sie. Man träumt davon, ein berühmter Sportler zu werden, oder zum Mond zu fliegen, oder auch Elsa in dem Musical Die Eiskönigin zu spielen. Beispielsweise erinnere ich mich daran, als mein Neunjähriges-Ich den Weihnachtsmann darum gebeten hat, ein Superheld zu werden, um die Bösen in der Welt zu bekämpfen. Ihr alle könnt euch dann die Enttäuschung vorstellen, als ich unter dem Weihnachtsbaum keinen Zaubertrank gefunden habe, der mir Superkräfte gegeben hätte.
Das Tolle an Träumen ist jedoch, dass sie — obwohl manchmal unerfüllbar — das Zauberhafte und das Wunderbare des Lebens evozieren und sichtbar machen. Sie geben uns Hoffnung in dunklen Zeiten; den Grund, wofür wir jeden Tag aufstehen und unseren Alltag mit Begeisterung leben; Zuversichtlichkeit, dass das Morgen besser als das Heute wird.
Klar wird auch, dass, wenn man an Träume denkt, man eher etwas meint, das eine gewisse Besonderheit in sich hat. Man assoziiert selten das Alltägliche oder das Selbstverständliche mit der Magie des Träumerischen. Zum Beispiel würde man wohl kaum sagen, „Ich träume davon, ins Kino zu gehen.“ oder „Mein größter Traum ist, ein Wiener Schnitzel im Restaurant zu essen.“
Der Punkt ist aber, dass das, was selbstverständlich für ein Individuum ist, besonders für ein anderes sein kann. Jemand kann das Einzigartige und das Tolle in etwas empfinden, das für einen anderen nicht einmal bemerkenswert ist. Dazu tragen subjektive Wünsche und Sehnsüchte natürlich bei. Es gibt aber auch externe Faktoren, die die Verwirklichung gewisser Vorhaben für einige Menschen leicht, aber für andere schwierig machen; so schwierig, dass die Verwirklichung dieser Absichten anfängt, magische Kraft zu enthalten. Das ist der Fall, weil unsere Gesellschaft die Erfüllung der gleichen Absichten für einige erleichtert, aber für andere erschwert, sodass die „selbstverständliche“ Erfüllung für die letzten träumerisch, gar fantastisch wird.
Zahlreich sind die Beispiele, woran, ihr, Leser, sicherlich denkt. Ich möchte euch jedoch über eine bestimmte menschliche Handlung überlegen lassen.
Die Absicht, unsere Liebe leben und äußern zu können.
Das ist etwas, das unsere Gesellschaft für alle Bürger gleichermaßen nicht gewährleistet. Man spürt immer noch die Rhetorik der „falschen Liebe“. Verbreitet sind Vorurteile gegen Liebesbeziehungen, die über das heteronormative Modell hinausgehen. Zu oft hört man von Geschichten, nach denen soziale Hindernisse queerer Liebe entgegengestellt werden.
Diese schwierig auszurupfende Heteronormativität macht für viele Menschen der LGBTQ+-Community das Äußern ihrer Liebe quasi märchenhaft; etwas wovon man abends vor dem Einschlafen träumt, das aber morgens beim Frühstück nicht erzählt wird. Während Liebesäußerung für die Mehrheit der heterosexuellen Paaren nicht einmal hinterfragt wird, müssen viele queere Menschen ihre Liebe verstecken, als ob sie das schändlichste Verbrechen wäre. Oder wenn sich sie dafür entscheiden, ihre Liebe in der Öffentlichkeit zu leben, machen sie das oft mit der Angst vor Diskriminierung und Übergriffen. Folglich wird die eigentliche, reale Leichtigkeit und Spontanität ihres Liebesgefühls angegriffen und von einer Sorglosigkeit können sie nur träumen; das können sie sich nur in utopischen Szenarien vorstellen. Das kann sich nur am Geburtstag beim Kerzen-Ausblasen gewünscht werden.
Möchtet ihr, liebe Leser, wissen, wovon ich persönlich träume?
Ich träume davon, beim Spazieren meinen Freund an der Hand zu halten, ohne mich darum zu sorgen, auf uns taktlose Blicke zu ziehen, als ob wir außerirdische Wesen wären.
Ich träume davon, meinen Freund in einem Park zu küssen, ohne jenes Unbehagen verspüren zu müssen, dass jemand uns sehen und willkürlich anfeinden könnte.
Aber bitte, lasst mich von einer Sache ausgehen: Ich träume davon überhaupt zu sagen, dass ich einen Freund habe. Ich wünsche mir, das ohne Zögern erwähnen zu können, ohne fremdes Urteil fürchten zu müssen, ohne beim Aussprechen meinen Herzschlag im Hals zu fühlen.
Aber wisst ihr was?
Ich will meine Träume nicht!
Wieso?
Es ist ungerecht.
Es ist ungerecht, dass ich davon träume, meine Liebe zu leben, während andere Menschen ihre Liebe schon immer leben. Mein träumerisches Wandern fußt auf sozialer Ungerechtigkeit, die nicht mehr zu akzeptieren ist. Ich pflege solche Träume nur, weil unsere Gesellschaft einige Leute bis zu dem Punkt ausgrenzt, wo sie alltägliche und selbstverständliche Gesten der Liebesäußerung als Phantasma ansehen.
Wäre unsere Welt sozial gerecht gewesen, hätte ich von etwas anderem geträumt. Wenn die Freiheiten heterosexueller Menschen auch bei queeren Menschen anerkannt gewesen wären, hätte ich meine Liebe nicht nur in Träumen aber auch in der Wirklichkeit gelebt. Wenn ich meinem Liebesgefühl mehr plastische Konkretheit hätte geben können, hätte ich nicht nur mit süßen Träumen, sondern auch mit tatsächlichen Erinnerungen meine Seele genährt.
Aber bitte, meine lieben Leser, berücksichtigt auch, was ich zu Beginn des Textes gesagt habe: Träume zu bewahren ist wundervoll; unterzugehen in das Meer der Träume, von dem farbenfreudigen Horizont der Einbildungskraft gerührt zu sein, rettet unser Leben vor prosaischer Kälte und Pessimismus.
Mit meinen Träumen ist das Problem jedoch, dass sie sich auf meiner Angst fußen, ich selbst zu sein, und meine Liebe für einen anderen Mensch frei und öffentlich auszudrücken. Was ich daran unfair finde ist, überhaupt in dieser Position zu sein, Angst zu haben. Inakzeptabler wird dieses Unbehagen bei dem Gedanken, dass es die Gesellschaft ist, die unbeschwerte Liebe von einigen beim morgigen Aufwachen verschwinden lässt. Inakzeptabel ist das, weil alle Gesellschaften sich auf Gleichheit und auf Respekt vor der Würde aller Menschen stützen müssten.
Wenn ihr mich jedoch fragt, ob ich irgendwelche anderen Träume pflege, sage ich euch, dass ich einen vielleicht noch größeren Traum habe:
Veränderung zu bewirken. Ich will Leute beeinflussen, bei ihnen Werte wie Gerechtigkeit und Menschlichkeit wecken. Ein Vorbild für andere zu sein, ist etwas, wonach ich strebe.
Vielleicht kann das Schreiben meine Superkraft sein; auf diese Weise werden die Bösen in der Welt bekämpft.
Vielleicht werde ich zum Superheld.
Der Weihnachtsmann hat meinen Wunsch letztendlich erfüllt.