Text 16 – 2024

[ 02:00 Uhr ]

Das Jahr ist 2124.

Aufgehängt inmitten kaleidoskopischer Galaxien und unsichtbarer Weiten des Universums sieht die Erde so aus wie sie seit eh und je ausgesehen hat. Die Erde dreht sich lautlos um ihre Achse, gefangen in ihrem ewigen Tanz, während die blinkenden Sterne über ihr zusehen.

***

Der Regen fiel heftig. Ben blickte auf und kniff die Augen zusammen. Als der Regen auf sein Gesicht prasselte, konnte er sehen, dass die Spitzen der höchsten Wolkenkratzer von den Wolken verschluckt worden waren. Die Wolken hatten einen tiefvioletten Farbton angenommen, beleuchtet von der technikfarbenen Metropole unten. Trotz der Nachtzeit leuchteten die Neonlichter, Hologramme und Schwebefahrzeuge sporadisch. Sie verwandelten die regenwassersprudelnden Straßen in leuchtende Flüsse, die sich stets bewegten und veränderten wie elektrische Flammen. Ben wischte sich mit seinem Lederärmel den Regen aus den Augen und sah auf sein Handgelenk. Seine Hologrammuhr zeigte 1:39 Uhr an.

Zeit, mich auf den Weg zu machen.

Er zog seinen langen Ledermantel fester zu und ging weiter, seine Stiefel in die Pfützen platschend. Allein im Regen war Ben ein Schatten in der Stadt. Obwohl es über ihm in den höheren Stadtebenen brummte, war Ben unten in diesen versteckten Gassen mutterseelenallein, abgesehen von ein paar Ratten. Doch selbst die trauten sich nicht in den Regen hinaus. Als er nach links abbog, erreichte Ben eine Hauptstraße. Hier sausten ein paar Schwebewagen leise an ihm vorbei, während der eng gedrängte Wind Wellen auf den wässrigen Straßen erzeugte. 

Ben ging weiter. Seine Schritte echoten den glasigen Canyon hinunter, der von oben mit herabgefallenem Müll übersät war. Als Ben unter einer Eisenbahnbrücke hindurchging, tauchte automatisch eine Hologrammanzeige auf, die durch seine Anwesenheit gestört wurde. Die Silhouette einer eleganten Frau erschien. Sie hatte dichtes, schwarzes Haar, das locker auf ihre Schultern fiel, und stark ausgeprägte Wangenknochen. Sie trug ein glitzerndes rotes Kleid, das im verblassenden holografischen Licht schimmerte. Wie ein Filmstar, der über den roten Teppich schreitet, schlich sie auf Ben zu, obwohl ihre holografischen Absätze nicht in den Pfützen planschten. Ihre Lippen waren zu einem großzügigen Lächeln verzogen und enthüllten ein Gebiss mit perlweißen Zähnen, deren Glanz ihren pixeligen Ursprung verriet. Ben blieb stehen. Langsam und zögernd. Dies war nicht das erste Mal, dass dies passierte.

Die Hologrammfrau hob ein kleines blaues Kästchen hervor und beugte sich zu Bens Ohr.

»Neptun-1: einig denken, einig streben. Die nächste Errungenschaft der Menschheit, endlich für alle verfügbar«, flüsterte die Stimme der holografischen Frau in sein Ohr.

Das Hologramm flackerte und dann war es verschwunden. Der Regen fiel weiter.

Ben blickte einige Momente lang immer wieder auf den Platz, auf dem die Hologrammfrau aufgetaucht war. Er stand völlig still, seine Augen glasig.

Ich komme ja schon. Ich bin schon zu lange auf der Flucht.

Ben ging weiter, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen. Wie Tränen rann das Regenwasser an ihm herab.

***

Die Frau betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster des Schwebewagens. Ihr dichtes, schwarzes Haar war zu einem Dutt zurückgebunden, der ihre scharfen Wangenknochen hervorhob. Immer wieder trommelte der Regen gegen das Glas und rieselte an den Seiten des Fensters herunter. Sie war allein auf dem Rücksitz. Ihr Fahrer wusste genau, wohin sie wollte. Draußen strömte die Stadt vorbei, ein Fleck aus Farben und Bewegungen.

Ein Alarm erschien auf ihrer Hologrammuhr. Die Frau tippte auf ihr Handgelenk und öffnete die Nachricht.

Die Verkaufszahlen von Neptun-1 erreichen einen neuen Rekord.

Mit einer Fingerbewegung wischte die Frau die Nachricht beiseite. Sie würde sich später damit befassen. Im Moment hatte sie wichtigere Dinge zu erledigen.

»Fahrer, schalten Sie das Radio ein«, befahl sie streng und blickte wieder auf die vorbeirasende Stadt hinaus. Das Radio ging an.

»... und es ist unglaublich, nicht wahr, Jonas?«, ertönte die Stimme einer Reporterin im Radio.

»... Ja, ist es wirklich, Jenni. Obwohl sie ursprünglich Schauspielerin war, ist Marilyn Woods die erfolgreichste Geschäftsfrau ihrer Zeit geworden. Als Partnerin von Prometheus, dem wissenschaftlichen Forschungsunternehmen mit Sitz in Kalifornien, hat Marilyn Woods die Welt wieder einmal begeistert. Natürlich wisst ihr schon von ihrem erfolgreichsten Produkt, dem KI-Mikrochip Neptun-1. Aber ihr wisst vielleicht nicht, dass diese bahnbrechende Technologie erst zwei Jahre alt ist! Wer hat sich seither nicht gechippt? Niemand! Laut den letzten Daten sind alle Einwohner jetzt gechippt, das haben wir der Großzügigkeit der Stadtverwaltung zu verdanken, die vor drei Monaten den Chip als unentbehrlich für die Lebensqualität der Stadt vorschrieb.«

»... In der Tat. Jetzt haben wir uns alle chippen lassen! Das Leben ohne Neptun-1 ist unvorstellbar. Wir können auf alle Informationen zugreifen, die wir jemals brauchen könnten, ohne ein Handy oder eine Hologrammuhr zu benötigen. Wir können telepathisch Nachrichten verschicken!«

»...Und vergessen Sie nicht, die Rolle von Neptun-1 bei der Friedenssicherung zu erwähnen! Seit der Einführung des Mikrochips ist die Kriminalitätsrate stark gesunken. Gesundheitsexpert:innen loben den Chip für seine unglaublichen Aufwirkungen auf die psychische Gesundheit und die Verminderung der Aggressivität.«

»...Ganz genau. Denn wer würde bei all den Antworten jemals Ärger machen wollen? Es ergibt einfach keinen Sinn. Neptun-1 bringt uns näher zusammen als je zuvor. Einig denken, einig streben! Die Menschheit leidet seit Jahrhunderten unter Spaltung und Fehlkommunikation. Regierungen aus der ganzen Welt strömen zu Prometheus, um sicherzustellen, dass nach der internationalen Markteinführung von Neptun-1 kein Land bei der Verteilung dieses vorteilhaften Produkts zu kurz kommt.«

Die Lippen der Frau waren zu einem kleinen Lächeln verzogen. Das Radio sich in einem Punkt geirrt: Es gab noch zwei Menschen in dieser Stadt, die noch nicht gechippt waren. Die erste Person war sie selbst.

Die zweite war er.

Sie hatte nicht erwartet, dass sie 27 Stunden vorher eine SMS von ihm erhalten würde. Sie hatte nicht erwartet, jemals wieder etwas von ihm zu hören. Nicht, seit er geschworen hatte, nie wieder mit ihr zu sprechen und Neptun-1 ein für alle Mal zu zerstören. Er sagte, er würde es für die Menschheit tun. Für die Freiheit. Aber dann kam die Nachricht. Die Kapitulation. Er hatte seine Niederlage endlich akzeptiert.

Er hatte so viel Vertrauen in die Menschheit.

Sie lächelte bei dem Gedanken. So naiv.

Wie schade, dass sie einmal ineinander verliebt waren...

***

Ben erkannte den vertrauten gelben Lichtschein des Cafés schon von weitem. Die gläserne Fassade des Nachtcafés warf das warme Licht von innen auf die nassen Straßen. Drinnen war es leer, abgesehen von ein paar Angestellten, die hinter dem Tresen putzten.

Dies war ihr Lieblingstreffpunkt gewesen.

Als er die Glastür erreichte, stieg ihm der vertraute Geruch von Kaffee, frischem Gebäck und Bleichmittel in die Nase.

Langsam öffnete Ben die Tür und ging hinein. Die Tür ließ eine Glocke ertönen, die seinen Eintritt ankündigte. Eine Kellnerin schaute sofort zu ihm.

»Hallöchen! Bitte nehmen Sie Platz«, sagte sie strahlend.

Ben setzte sich ausdruckslos ans Fenster.

Die Kellnerin kam mit einer Hologramm-Speisekarte herüber.

»Hier ist die Speisekarte«, zwitscherte sie. Ben bemerkte ein elektro-blaues Glitzern in ihrem rechten Auge, ein Zeichen dafür, dass sie gechippt war. Ben hatte einen gefälschten Chip implantiert, sodass er sich unbemerkt einfügen konnte.

»Natürlich können Sie jetzt per Chip bezahlen. Aber tatsächlich mögen Kunden den persönlichen Kontakt mehr...«, sie sah ihn lächelnd weiter an, eine Antwort erwartend.

Ben blieb stumm.

»Oh, Sie sehen so traurig aus.«, ihre Stimme verstummte. Ein leichtes Stirnrunzeln erschien auf ihrem Gesicht.

»Ich nehme einen Espresso, bitte.« sagte Ben leise.

»Gut, einen Espresso und «

Ben unterbrach sie plötzlich und sah ihr direkt in die Augen.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er.

Das Lächeln der Kellnerin erstarrte. Ihr Gesicht wanderte zum Fenster und ihre Augen wurden glasig.

»... Mein Name?... Wie ich heiße? ... Nun, ich kann mich nicht erinnern... .«

Plötzlich leuchtete ihr blaues Auge besonders stark.

»Ich habe doch keinen Name mehr.« Sie lächelte wieder. »Einig denken, einig streben!« Sie drehte sich um und ging zurück an den Tresen, wo sie begann, mechanisch den Espresso zuzubereiten.

Ben warf einen Blick auf seine Hologrammuhr. Die Uhrzeit lautete 01:59 Uhr.

***

02:00 Uhr.

Der schwarze Schwebewagen hielt vor dem Café. Die Frau konnte ihn sehen. Sie wollte die Tür des Schwebewagens öffnen, aber kurz bevor sie den Griff berührte, erstarrte ihre Hand.

Er schaute sie durch das Caféfenster an.

Die beiden starrten sich einen Moment lang in die Augen.

Die Frau ließ ihre Hand fallen. Sie sah von ihm weg und tippte ein paar Befehle in ihre Hologrammuhr.

Das wird so viel schneller gehen.

Im Café hörte die Kellnerin auf, den Espresso zuzubereiten. Ihr blaues Auge leuchtete stärker als zuvor. Ihre rechte Hand griff in ihre Tasche, wo sie eine Spritze herauszog. Ihr Kollege, der den Boden wischte und dessen rechtes Auge ebenfalls blau leuchtete, ließ seinen Besen fallen und marschierte steif auf Ben zu.

Ben sah die Frau im Schwebewagen an, die ihm die Seite zugedreht hatte, und biss die Zähne zusammen. Er wusste schon, was sie getan hatte. Sie konnte ihm nicht einmal dieses letzte Treffen gönnen. Er lehnte sich in seinen Sitz zurück und schloss die Augen. Die dumpfen Schritte des Kellners näherten sich.

Wenn er die Augen schloss, konnte er Galaxien und Sterne sehen. Die Geheimnisse des unsichtbaren Universums.

Wenn er die Augen schloss, konnte er alles sehen.

Ende.

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