Text 11 – 2024

[ Zukünftige Einsicht ]

An einem schönen Tag im Juli 2050 wachte der alte Rechtsanwalt, Joachim Redner, auf. In den letzten 50 Jahren hatte sich für ihn wenig geändert – mit der Ausnahme einer Erfindung, die er durch den Einsatz von KI schuf – genauer gesagt einer Brille, die es ihm ermöglichte, die Gedanken der Menschen zu lesen. Diese Brille hatte ihm oft geholfen, sicherzustellen, dass Gerechtigkeit erreicht wurde, als er seine Mandanten vor Gericht vertrat. An diesem hellen, sonnigen Tag musste er im Old Bailey in London für einen jungen Mann namens Hans Zimmermann erscheinen, der des Diebstahls beschuldigt wurde. Die Beweislage gegen den Angeklagten war erdrückend. Vor seiner Entlassung hatte Hans als Kassierer in einer Bank gearbeitet. Der Buchhalter der Bank hatte bemerkt, dass letzten Monat am Ende eines Tages 5000 Britische Pfund Sterling verschwunden waren. Eine Summe von 3000 britischen Pfund war zur gleichen Zeit auf Hans’ Konto aufgetaucht, die, wie Hans betonte, ein Geschenk seines Onkels war. Unglücklicherweise war sein Onkel auf Safari gegangen und konnte dies nicht bestätigen. Trotzdem glaubte Joachim, dass der Angeklagte unschuldig war.

Nach seiner Ankunft im Old Bailey machte sich Joachim auf den Weg zum Ankleidezimmer der Anwälte, wo er sein Hofgewand und seine Perücke anlegte und natürlich seine Brille aufsetzte. Die Staatsanwältin, deren Aufgabe es war, seinen Mandanten strafrechtlich zu verfolgen, war schon da – Frau Meier. Joachims Brille zeigte ihm sofort, dass seine Gegnerin am darauffolgenden Tag einen anderen Fall hatte und erwartete, dass der unglückselige Hans sich schuldig bekennen würde. Joachim und Frau Meier kannten sich gut.

Sie begrüßte Joachim mit den Worten:

„Dein Fall ist hoffnungslos, na?“   

„Ein bisschen herausfordernd“, erwiderte Joachim, „aber ich wette, dass du morgen was Besseres zu tun hast? Dieser arme Kerl ist ein ehrlicher Mensch und ich glaube, dass er unschuldig ist.  Kannst du ihn nicht freilassen?“

„Du solltest deinen Mandanten davon überzeugen, sich schuldig zu bekennen...vielleicht könnte er dabei dem Gefängnis entgehen ... Nach einem unnötigen Prozess wird der Richter keine Geduld haben“.

„Wir werden sehen, was passiert.“

Sie machten sich auf den Weg ins Gericht und nahmen ihre Plätze ein. Hans saß schon zwischen zwei Polizisten. Eine Tür öffnete sich und der Richter kam herein. Joachims Brille ermöglichte es ihm sofort zu erkennen, dass der Richter nur daran interessiert war, den Gerichtsaal so früh wie möglich zu verlassen, um mit seinen Justizkollegen Golf zu spielen. Der Richter hatte eine Zusammenfassung des Falls gelesen und entschieden, dass der Angeklagte schuldig war. 

Der Richter setzte sich hin und starrte Herrn Redner an.

„Ich nehme an, dass Ihr Mandant sich schuldig bekennt?“

Joachim stand auf. „Eigentlich, nein“, antwortete er. „Trotz des guten Wetters und der Gelegenheit, die wir möglicherweise haben, heute Golf zu spielen, besteht der Angeklagte auf sein Recht auf einen Geschworenenprozess.“

Der Richter runzelte die Stirn und starrte Herrn Redner misstrauisch an. Er hatte immer das Gefühl, dass dieser Anwalt seine Gedanken lesen konnte, obwohl das natürlich nicht möglich sein konnte.

„Ich hoffe, dass der Angeklagte versteht, dass seine Strafe länger ausfallen könnte, wenn ihn die Geschworenen für schuldig befinden“, warnte der Richter.

„Ich habe meinen Mandanten über die Risiken aufgeklärt“, erwiderte Joachim. Der Richter murmelte etwas zu sich selbst, was Joachims Brille entdeckte, aber der Anwalt beschloss, nichts zu sagen.

So begann der Prozess. Die Geschworenen legten ihren Eid ab. Frau Meier skizzierte ihnen, worum es in dem Fall ging. Dann rief sie ihren ersten Zeugen zur Aussage auf. Dieser war der Buchhalter der Bank, ein typischer Erbsenzähler. Der Buchhalter beschrieb, wie er den Verlust des Geldes entdeckt hatte. Er war sehr lebhaft bei seiner Aussage. Es schien, als ob diese Entdeckung das aufregendste Ereignis seines Lebens gewesen wäre. Joachim spürte, wie seine Brille zu wackeln begann, as ob sie amüsiert wäre. Sie übermittelte die Nachricht an Joachim, dass der Zeuge für Autokennzeichen schwärme. Obwohl es nichts mit dem Fall zu tun hatte, konnte Joachim der Gelegenheit nicht widerstehen, diesen Erbsenzähler nach seinem Hobby zu fragen – und zwar unter dem Vorwand, dass es relevant für seine Fähigkeit war, das fehlende Geld genau zählen zu können. Es wurde bald offensichtlich, dass der Zeuge besessen von Autokennzeichen war. Der Richter, der die Aussage bis jetzt in seinem roten Buch notiert hatte, schnaubte auf und warf seinen Stift nieder.

„Was der Zeuge sagt, hilft mir nicht“, protestierte der Richter, offensichtlich verärgert.

Der Richter befahl dem Buchhalter, mit dem Reden über Autokennzeichen aufzuhören. Die Geschworenen begannen zu kichern. Das was das Ende seines Auftritts vor Gericht.

Die nächste Zeugin war Katrin Krause, eine Bankkassiererin, neben der Hans gearbeitet hatte. Als sie ins Gericht eintrat, wurde der Richter unerwartet aufgeregt und begann, seine Perücke über sein Gesicht zu ziehen. Er war offenbar alarmiert. Katrin lächelte ihn an. Joachims Brille begann unfreiwillig auf der Nase auf und ab zu springen. Sie zeigte Joachim, dass der Richter und Katrin Freunde waren und zwar mehr als Freunde. Der Richter hatte die Bank oft besucht, in der die Dame arbeitete. Obwohl es für ihn untypisch war, hatte er die Dame eines Tages zum Mittagessen eingeladen. Danach wurde sie von ihm besessen und ihre Beziehung hatte sich entwickelt. Interessant, dachte Joachim.

Katrin schwor den Eid. Frau Meier bat die Zeugin zu bestätigen, ob sie am Tag des Diebstahls in der Arbeit war.

„Sicher“, antwortete sie.

„Haben Sie Herrn Zimmermann  gesehen, als er die Bank verließ?“

„Ja.“

„Hatte er irgendetwas bei sich?“

„Er trug einen Rucksack, der ganz voll zu sein schien, aber ich weiß nicht, was drinnen war.“

„Vielen Dank, Frau Krause. Bitte, bleiben Sie hier. Es ist möglich, dass der Strafverteidiger einige Fragen an Sie hat“.

Frau Krause fing an, den Richter mit ihrem Blick zu suchen. Sie schien sehr nervös zu sein. Der Gerichtsdiener bot ihr ein Glass Wasser an, das sie dankbar annahm.

„Frau Krause“, begann Joachim. „Wieviele Kassierer und Kassiererinnen arbeiteten an diesem Tag?“

„Ungefähr fünf.“

„Hatten sie alle den gleichen Zugang zum Bargeld?“

„Ja.“

„Wissen Sie, ob jemand ein Motiv hatte zu stehlen?“

Frau Krause fing an, an ihrem Kleid herumzufummeln. Sie sah verlegen aus. Der Richter sah noch beunruhigter aus und versuchte, die Ärmel seiner roten Robe über die Gelenke zu ziehen. Trotzdem konnte man etwas Glitzerndes sehen, das er zu verbergen versuchte.

„Was meinen Sie?“, fragte sie ausweichend.

„Es ist ganz einfach ...ein Motiv ... zum Beispiel ...Ein Liebhaber, für den er oder sie Geschenke kaufen wollte?  Vielleicht ... ein Paar Manschettenknöpfe?“ Joachim betonte das Wort „sie“.

Frau Krause gab keine Antwort.

„Wenn Sie meine Fragen nicht beantworten, kann es erforderlich sein, den Richter zu ersuchen, Sie zur Beantwortung der Fragen anzuhalten.“

Der Richter, dessen Gesicht nun genau so rot wie seine Robe war, unterbrach Joachim.

„Das ist nicht notwendig. Ich habe genug gehört. Es ist ganz klar, dass viele Leute den gleichen Zugang zum Bargeld hatten. Es ist eine Schande, dass diese Strafverfolgung jemals eingeleitet wurde. Frau Meier... Sie haben mich erstaunt. Ich dachte, Sie wären eine vernünftigere Anwältin und dass Sie mir nie solchen Unsinn vorlegen würden. Ich weise die Geschworenen an, den Angeklagten für nicht schuldig zu erklären.“

Joachim sprach: „Ich bin dankbar. Und es ist auch noch ein guter Tag, um Golf zu spielen.“

Der Richter stand auf, starrte Joachim mit einem Blick tiefen Misstrauens an und verließ eilig den Gerichtsaal.

„Ende gut, alles gut“, sagte Joachim, als er seine Brille abnahm. Er blickte auf seine Gegnerin.

„Bis zum nächsten Mal.“

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