[ Die verschollene Errungenschaft ]
Ich stand an der Bushaltestelle und scrollte auf meinem Handy, wie alle anderen. Ein Influencer, der seine Alltagsroutine vorstellt, eine Sportlerin, die eine Preisverleihung mit ihren Fans teilt, ein Autor, der sein neues Buch vorliest, aber nur 30 Sekunden davon. So ist es. Die Videos sind alle kurz, kürzer als eine Minute, weil wir sonst Interesse daran verlieren würden. Unsere Konzentrationsspanne verkürzt sich mit jedem Jahr. Wir machen immer mehr innovative Produkte, die den Gebrauch des Denkens wegnehmen. Wie klug wir sind, als Menschen. Wir schaffen eine Welt, in der wir nicht mehr gebraucht werden, und damit verlieren wir unsere Fähigkeit, irgendetwas zu schaffen.
Ich war nicht die Einzige, die gedankenlos scrollte. Alle Leute standen da, Kopfhörer an, über ihre Handys gebeugt. Alle genervt, dass der Zug wieder ausgefallen ist. Dieses Mal gäbe es nicht genug Fahrer, gleiche Ausrede wie gestern und in der gleichen tonlosen Stimme ausgedrückt. Wir scrollten alle auf Instagram, TikTok, Twitter, oder X, wie es jetzt heißen sollte. Wir warteten auf den Schienenersatzverkehr. Was nützte es, ein Buch aus dem Rucksack zu holen und da lesend zu stehen? Es war einfach gemütlicher, das Handy aus der Jackentasche zu holen und ein paar Minuten mit Scrollen zu verbringen. Man wusste ja nie, ob es ein paar Minuten dauerte oder ob kein Bus in der nächsten Stunde kam und dann zwei auf einmal. Es machte keinen Sinn, das Risiko einzugehen, dass man diesen Bus verpasste. Deswegen scrollten wir alle.
Der Bus kam endlich, ein großer, alter Bus, der nach Diesel stinkende Abgase hinter sich ließ. Niemand achtete auf seine Ankunft, bis er direkt vor uns stand. Noch weniger achteten wir auf den grauen Himmel oder die kreischenden Vögel, die hier so üblich sind. Niemand bemerkte das weinende Kind, das unnachgiebig an der Hand seiner Mutter zog auf dem Bürgersteig gegenüber oder die Bannerwerbung auf dem Zaun des Bahnhofs, die uns ein perfektes Lächeln anbot.
Wir stiegen alle ein. Die anderen Fahrgäste schienen kein Interesse daran zu zeigen und starrten einfach auf ihre Handys, als wir versuchten uns vorbeizuzwängen und einen Platz zu finden, außer eine alte Dame. Sie hatte einen großen Sack voller Männerkleidung auf den Sitz neben sich gestellt, den sie nun auf den Schoß nahm, als sie mir ein Lächeln gab, das mir andeuten sollte, dass ich mich dort hinsetzen konnte.
Sobald ich Platz genommen hatte, sprach sie mich an.
„Ein düsterer Tag heute, nicht wahr?“, fragte sie heiter.
„Ja, stimmt“, antwortete ich kurz, widerwillig mich auf irgendein Gespräch einzulassen.
Doch sie drängte weiter,
„Ärgerlich, oder? Man wünscht sich immer ein Auto in solchen Fällen. Leider darf ich kein Auto mehr fahren, da ich nicht mehr so gut sehen kann. Aber ihr, junge Leute, die das für die Umwelt tun, habt echt Pech mit diesen unendlichen Zugausfällen. Und dass der Schienenersatzverkehr immer zu spät kommt, hilft auch nicht.“
Dann machte sie aber eine Pause, um zu atmen.
„Stimmt“, setze ich nochmal an. Ich wollte sie eigentlich nicht verletzen, nur würde ich viel lieber in meiner eigenen Gesellschaft Musik hören. Wie heißt das schleswig-holsteinische Sprichwort: „Wir sagen viel. Nur mit wenigen Worten.“ Vielleicht bin ich doch keine gute Schleswig-Holsteinerin. Ich würde heute lieber nichts sagen. Doch das war nicht möglich, die stehenden Fahrgäste konnten glücklich sein, dass sie nicht auch ins Gespräch eingebunden wurden.
„Mir ist es nicht sehr wichtig, wieviel Zeit wir brauchen“, dröhnte sie wieder,
„Ich muss nur diese Kleider zum Kiloladen bringen und die Liedblätter bei der Druckerei abholen, dann habe ich meine Sache erledigt. Aber Sie?“
Es fing gerade an zu nieseln. Wenn ein Tag noch düsterer werden könnte, wäre es so. Wir standen bestimmt schon fünf Minuten hier auf der Hauptstraße nach Kiel im Stau, der Verkehr fuhr langsam in die andere Richtung und wir hatten uns keinen Meter bewegt. Da brachte es doch etwas mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sonst wäre es so unangenehm, wie es ist, wenn man sich auf einem Date mit dem falschen Typen wiederfindet. Unvermeidliche Nähe und nichts zu sagen. Doch sie schien viel zu sagen zu haben und wenigstens unterhielten wir uns nicht auf Platt, da würde ich nämlich nur Bahnhof verstehen. Das Einzige, woran ich mich von der Platt AG in der Grundschule erinnern konnte, waren diese Kinderreime.
„Was machen Sie?“, wiederholte sie lauter und holte mich damit aus meinen Gedanken.
„Ich studiere dort.“, antwortete ich hastig, dann erinnerte ich mich daran, dass ich wohl ein bisschen mehr sagen sollte. „Deutsch und Reli auf Lehramt, erstes Jahr“, fügte ich hinzu.
Ihre Augen funkelten, als sie noch etwas sagte: „Meine Enkelin studierte auch auf Lehramt. Deutsch und Englisch. Dafür macht sie gerade ein Austauschsemester in London.“
„Da hat sie bestimmt eine Menge Spaß“, meinte ich, glücklich, ihr frohes Lächeln zu sehen. „Besucht sie Sie oft?“ Da verschwand ihr Lächeln wieder.
„Leider nicht. Sie wohnt bloß zu weit weg. Mein Sohn ist mit seiner Frau nach Freiburg gezogen und leider kommen sie nicht oft zu Besuch. Wir skypen manchmal.“ Ihre Stimme klang traurig, obwohl sie versuchte, glücklich zu klingen. „Aber sie kommen alle nächste Woche Samstag.“, sagte sie erneut heiter.
„Ah schön!", sagte ich fröhlich. Sie fragte mich nach meiner Familie und wir beschäftigten uns damit, über das Leben in Schleswig-Holstein zu reden.
„Ich bin hierher gezogen, nachdem ich meinen Mann geheiratet habe, früher habe ich in Hannover gewohnt. Es ist nicht die interessanteste Stadt, aber ich finde es schon einen Besuch wert“, erzählte sie,
„Ich hatte damals ganz viel Heimweh.“ Ihr nostalgischer Tonfall deutete an, wie groß die Umstellung für sie gewesen war. „Gettorf ist ja keine Großstadt und Kiel ist auch nichts Besonderes, aber mittlerweile glaube ich, dass ich nie woanders leben könnte.“
Sie sagte alles strahlend. Es freute mich, wie leidenschaftlich sie über ihr Leben hier oben sprach, andere Leute waren nicht so zufrieden damit, besonders wenn, wie jetzt, tiefster Winter war und es abends so früh dunkel wurde. Die Kälte machte es auch nicht besser.
Der Bus stoppte an der ersten Haltestelle, Suchsdorf. Überrascht bemerkte ich, dass die Zeit vergangen war wie im Flug.
„Ich muss hier aussteigen, schön, Sie kennengelernt zu haben“ sagte ich. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich am Anfang so genervt auf ihre Gesprächsversuche reagiert hatte, aber sie schien es nicht zu merken.
„Sie auch“, antwortete sie, als ihr freundliches Lächeln nochmal erschien. Ihr Lächeln allein könnte jemanden den Tag versüßen. Wenn man es zulässt. Sie winkte, als der Bus wegfuhr und ich winkte zurück. Ein goldener Ring auf ihrem Finger funkelte im Sonnenschein, der sich gerade durch die Wolken drängte, und bedeckte einen kurzen Moment die ganze Gegend mit Licht.
Es war saukalt, also machte ich mich auf den Weg zur Uni. Ich eilte, da diese Busfahrt bedeutete, dass ich zu spät kommen würde. Der Ring, den sie getragen hatte, drängte mich aber zum Nachdenken. Er bedeutete, dass sie verheiratet war, aber das wusste ich schon, sie hatte einmal ihren Mann erwähnt. Die Tasche voller Männerkleidung, die Liedblätter, die sie abholen musste, dass ihre Familie am übernächsten Samstag kommen wird, auf die sie warten muss. Es musste neulich etwas Trauriges in ihrem Leben passiert sein. Jedoch wirkte sie so glücklich auf mich.
Als ich lief und darüber nachdachte, fand ich es nicht nötig, Musik anzuschalten und steckte meine Kopfhörer ein..
Heute reichten das Gezwitscher der Vögel am Himmel und meine eigenen Gedanken.
So möchte ich in ihrem Alter auch sein.