[ Zadie auf Telegraph Hill
/ Matthew Richmond ]
Ich war insgesamt ein sehr ruhiger Mensch. Man sprach immer von meinem gelassenen Wesen, unter Freunden war ich bekannt dafür, und man sah mich fast nie in einer Krise oder sonst irgendwie aufgeregt. Ich schrieb das größtenteils meiner glücklichen Erziehung zu. Meine Eltern waren sympathisch und unterstützend, meine Kindheit sicher und angenehm. Ich war in das Erwachsenenalter gedriftet, durch Studium und dann Beruf, ohne je unter Härten leiden zu müssen, und als ich driftete, schien immer der Weg vor mir aufzutauchen, breit und frei und eben. Ich sagte mir oft, von solch einer sorglosen Existenz können viele 29-jährige nur träumen.
Trotzdem gibt es sogar auf den ruhigsten Wegen Hindernisse, und gelegentlich wurde auch ich flüchtig aus meinem Gleichgewicht gebracht. An diesem Spätwinterabend, als der Bus aus dem Bahnhof rollte und ich mich in meinem Platz zurücklehnte, wusste ich, dass es einen dieser Momente geben würde.
Vielleicht hatte es mit der besonderen Umgebung zu tun. Dasitzen im Bus, mit den hohen Rückenlehnen der Sessel vor mir und dem tiefen Rumpeln des Motors unten, konnte ich mich gegen das Fenster zusammenrollen und wie alle Fahrgäste in mich zurückziehen, dutzende in sich geschlossene Welte in einem kleinen Raum. Und es war dunkel, Licht gab es nur von den blauen Streifen im Gang und dem kalten Weiß, das von den hohen Straßenlampen draußen hereinsickerte, die Wache standen bei unserer Fahrt aus der Stadt.
Ich war dankbar für die Dunkelheit. Ein hektisches Wochenende hatte mich erschöpft und immer, wenn ich müde war, wurde mein Prellbock schwächer, mein sonst so robuster Schutz gegen die Wellen von Emotionen, die mir entgegenbrachen. Vergangene Sonnabendbusfahrten waren zu oft von einem nicht loszuwerdenden Unbehagen betrübt, mein Kopf ein nagendes Durcheinander, eine unsortierte Schublade von zu erledigenden Sachen – unbeantwortete Nachrichten, dringende Emails, die kaputte Bremse meines Fahrrads, die ich monatelang nicht reparierte.
Diesmal gab es aber keine Angst, das Gefühl kam eher von Innen. Ich versuchte nicht, es zu bekämpfen, fast dankbar war ich bloß da zu sitzen und mich von allem überrollen zu lassen. Gesichter von der Hochzeitsparty blitzten vor mir auf: Joe und Ella aneinandergepresst, lächelnd, weinend, Soraya, als sich unsere Blicke auf der Tanzfläche kurz trafen, bevor sie sich abwendete, und überall dieser Liebesblick, so allgegenwärtig, dass es fast banal wurde, nicht, dass es das leichter zu ertragen machte, besonders weil gerade diese Lieder in meinem Kopfhörer liefen und…
Ich suchte zwischen den Masken in meinem Rucksack nach einem Taschentuch. Ich sah um mich herum, aber alle anderen waren noch in ihrer eigenen Welt vertieft, die meisten schienen schon eingeschlafen zu sein, andere starrten auf das Handy. Ich putzte mir die Nase, wickelte meine Jacke um meinen Kopf herum und legte meine Stirn an das leicht rüttelnde Fenster.
Der Stier stürmt vorbei, du wartest ein paar Sekunden dann springst du auf und eilst davon in die andere Richtung. Es fällt dir schwer schnell zu laufen, deine Beine kommen nicht richtig in Gang und du schaust ängstlich über deine Schulter zurück, aber der Stier läuft weiter weg von dir, zwar nicht mehr so schnell, und es gibt da Menschen, du weißt nicht wer, aber das geht dich nichts an, du musst weiter, bergauf und durch das hohe Gras. Du kommst zu der Spitze des Hügels, es öffnet sich vor dir und du bist plötzlich nicht mehr auf dem Land, du hast einen Blick auf die unverkennbare Skyline von London, Wolkenkratzer neben Wolkenkratzer vor deinen Augen. Die Aussicht kennst du gut und dann auf einmal weißt du, wo du bist, ja, du bist auf Telegraph Hill, da unten sind die Dächer der großen Stadthäuser und die Kronen der Bäume auf Erlangen Road. Es gibt jemanden auf einer Bank sitzend mit dem Rücken zu dir und du gehst rüber, bis du ihr Gesicht sehen kannst und du erkennst-
Hallo.
Hi.
Du setzt dich hin und ihr schweigst eine Weile. Du wirfst ihr einen Blick zu. Sie trägt wie üblich ein hellbraunes Kopftuch und sie sitzt sehr aufrecht, mit dem Kopf etwas versenkt, als sei sie tief in Gedanken, vielleicht wirkt sie deswegen so ernst, vielleicht liegt es auch an ihren Mundwinkeln, die sich etwas nach unten biegen, oder an ihren Augenbrauen, die stets ein wenig zusammengezogen sind.
Was inspiriert dich zu schreiben? Wie weißt du, worüber du schreiben willst?
Sie schaut dich an.
Ich schreibe die Bücher, die ich schreiben muss. Ich denke immer, das Werk einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers spiegelt in vieler Hinsicht ihre oder seine Kindheit wider. Allerdings sind meine Leidenschaften und Obsessionen von damals, aus der Zeit, als ich ein Teenager war, in meinen Büchern zu finden.
Was waren denn deine Leidenschaften als Teenager, vielleicht hattest du keine, nein, sicherlich hattest du sie, aber warum fällt dir dann nichts ein. Du betrachtest die Aussicht vor dir, die Skyline, und davor die Wiese, so würden Deutsche und Österreicher es nennen, du aber nicht, selbst wenn das Gras wie jetzt hoch und mehr gelb als grün ist und dich an etwas erinnert, an jenen Sommer-
Es ist nur, ich schreibe sehr gerne, aber ich denke immer, dass ich nichts zu sagen habe, wenigstens nichts Neues. Ich könnte davon schreiben, wie ich mich mal verliebt und dann später entliebt habe, aber davon hat man schon tausendmal gehört, das bringt nichts.
Du musst aber nicht über dich selbst schreiben. Es ist eigentlich das Gegenteil, über andere zu schreiben macht einen menschlicher, deshalb ist es so besonders. Unser ganzes Leben denken wir an uns selbst, an unsere Ziele, wir sind sehr egoistisch, aber wenn du schreibst, lernst du durch die Figuren zu leben, die du schaffst. Du kannst dich selbst vergessen – und die Welt hereinlassen.
Die Welt hereinlassen. Hast du das je gemacht, was bedeutet das eigentlich, ein Gespräch mit einem Mann an einer Bushaltestelle, kein Entkommen, ein brennendes Schamgefühl, daran denkst du lieber nicht.
Und was, wenn das, was du schreibst, nichts wert ist.
Und was, wenn das, was du schreibst, nichts wert ist? Hattest du mal Zweifel an deinem Schreiben?
Sie schaut dich wieder an, Augen tief und verständnisvoll, die Augen eines Menschen unter Menschen, Augen, die schon mehr als nur ein bisschen von Leid verstehen und auch von der Hoffnung und der Liebe.
Immer noch. Aber das ist natürlich. Wenn das Schreiben dich selbst erfüllt, das ist das Wichtigste, es ist der Prozess selbst-
Es glühte hinter meinen Augenlidern plötzlich gelb, und ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu orientieren. Mein Gesicht war noch gegen die Fensterscheibe gedrückt und ich blieb einen Moment ruhig und hörte zu, wie der Fahrer unsere Ankunft in Birmingham durchsagte und die ersten Fahrgäste anfingen sich zu bewegen. Als ich die Augen endlich aufmachte, blickte ich auf meine Widerspiegelung. Sein Gesicht war noch aufgedunsen und seine Augen etwas rot, und die Kopfhörer waren ihm so verrutscht, dass sie schräg lagen, die Hälfte nicht mehr auf dem Ohr. Ich musste lächeln und er lächelte zurück, als wir uns bereit machten, auszusteigen.
Es war nach Mitternacht als ich endlich nach Hause kam. Ich war noch müde und wusste, dass ich es morgen bereuen würde, wenn mein Wecker um 6:45 klingelte, aber ich wollte nicht schlafen, ich konnte nicht. Mir schwirrte noch alles durch den Kopf, ich musste an Zadie denken, an das Gespräch, an ihre Augen, die alles anzunehmen und dann wieder auszustrahlen schienen.
Ich saß auf meinem Bett und fing an zu schreiben. Während ich schrieb, konnte ich nicht anders, als enttäuscht zu sein, denn ich schrieb darüber, worüber ich immer schrieb, über mich selbst, trotz allem, was sie mir gesagt hatte. Aber während ich schrieb, und während ich gerade schreibe, fühle ich dennoch eine Hoffnung, nein, eine Entschlossenheit, dass auch ich, wenn ich es nur versuchen würde, es tun könnte.
Die Welt hereinlassen. Irgendwo muss man anfangen.