[ Am Fuße von Henrys Bett
/ Morgan Seed ]
Es gab viele Dinge, die Henry am Fuße seines Betts vermutet hätte.
Ein Geist war nicht eines davon.
Er musste dies erst verarbeiten. Schließlich war ein Besuch von jemandem, von jenseits des Grabes, nicht etwas, dass jeden Tag passierte.
“Ich träume, ja?”
Der Geist zuckte nur mit den Schultern.
“Ich habe keine Ahnung.” Der Geist klang dabei nicht sehr angsteinflößend. Eigentlich klang er sogar gelangweilt.
“Was machst du hier?”
“Ich warte darauf, dass du eine Lektion lernst. Duh. Hast du nie ein Buch gelesen?”
“Was…?”
Der Geist gab ein tiefes Stöhnen von sich, obwohl es keine Lunge hatte.
“Lass uns dieses Gespräch schnell hinter uns bringen. Ich bin aus dem Land des Lebens nach dem Tod geschleift worden, um dir deine Fehler zu zeigen. Glaub mir, wenn ich sage, dass ich nicht darum gebeten habe.”
Es war das erste Mal, dass Henry sich von einem Traum angegriffen fühlte. Oder wenigstens hoffte er, dass es ein Traum war. Darum zwang er sich, selbstbewusst auszusehen.
“Nein, danke. Ich denke, dass ich wieder ins Bett gehe.”
Er schloss seine Augen, wurde aber von einem sehr harten Schlag gestört.
Er war ein bisschen genervt.
Nur ein bisschen.
“Was zur Hölle?”
“Komm runter! Du wirst die Nachbarn aufwecken.”
“Ich werde dir wehtun! Verpiss dich!” sagte Henry und hoffte, dass er drohend klang.
Der Geist sah selbstgefällig aus.
“Nein, wirst du nicht. Aber ich werde gehen, sobald du deine Lektion gelernt hast.”
Diese Nacht war furchtbar. Henry seufzte, aber er konnte keinen Ausweg finden.
“Okay. Was ist diese Lektion genau?”
Der Geist zuckte wieder mit den Schultern.
“Ich weiß es nicht. Das liegt an dir.”
“Was?”
“Also, gibt es etwas, dass du bereust?”
“Nein.”
“Ich denke, dass du ein bisschen zu schnell geantwortet hast.”
“Ich mir doch egal, was du denkst.”
“Versuch es nochmal.”
Etwas in Henrys Kopf wollte, dass er den Geist einfach schlägt.
“Fein. Ich habe ein paar Dinge in meinem Leben gemacht, auf die ich nicht stolz bin. Zufrieden?”
“Ich werde mehr als das brauchen, Kumpel.”
“Nein. Du könntest ja von der Polizei sein.”
“Hörst du was du da sagst? Was denkst du, dass ich machen werde? Dich verhaften und in ein Geistergefägnis schicken? Nein. Obwohl ich dieses Szenario gerne sehen würde.”
Henry erwog, nicht darauf zu antworten. Er schaute auf die Uhr. Die Nummern veränderten sich wahllos, mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit. Er bemerkte, dass keine Vögel draußen sangen. Normalerweise weckten sie ihn mit ihr nervigen Singen. Eigentlich gab es überhaupt kein Geräusch, als wie wenn sich die Welt zu drehen aufgehört hätte.
Er war in einem zeitlosen Nichts. Zum jetzigen Zeitpunkt war er nicht einmal mehr erstaunt.
“Es ist nur ein Traum.”, sagte er sich. “In einer halben Stunde, werde ich aufwachen.”
Der Geist war leider noch da. Sturer Trottel.
“Okay, ich werde dir mehr sagen. Aber nur, weil du dann vielleicht schneller verschwinden wirst.”
“Das wollte ich hören, nur nicht zu leidenschaftlich sein.”
“...ich hatte eine Firma. Wir haben manche...Entscheidungen getroffen...”
“Betrug” sagte der Geist.
“Betrug” wiederholte Henry, vielleicht mit etwas mehr Betonung als nötig.
“Und...?” gab der Geist ihm einen Hinweis.
“Und es gab Konsequenzen.”
Der Geist spottete und Henry fühlte sich sofort angegriffen.
“Was? Gab es!”
“Konsequenzen sagt er. Erzähl das den vier Mitarbeitern, die sich getötet haben, weil du ihre Rücklagen verloren hast.”
“Sei still.”
“Warum? Ist das nicht wahr?”
Henry sagte nichts.
“Ich bin doch ein Traum, erinnerst du dich? Du hast es selbst gesagt. Ich weiß alles.”
“Ich sagte halt die Klappe.”
“Nein.” Es war das erste Mal, dass der Geist kraftvoll geklungen hatte. “Das ist kein Buch, Kumpel. Du kannst nicht aufhören zu lesen, wann du willst. Dies ist die echte Welt.”
Henry sah auf seine Hände und schwieg.
“Das habe ich mir gedacht.” Der Geist sah nicht mehr selbstverliebt aus. Nur mehr traurig. “Mach etwas dagegen.”
Henrys Augenlider fühlten sich, obwohl er schlief, schwer an. Er fühlte sich müde. Sehr, sehr müde.
“Also, was denkst du, dass ich machen sollte?”
Der Geist zuckte ein letztes Mal mit den Schultern.
“Ich habe keine Ahnung. Es ist deine Entscheidung.”
Henry fühlte sich wirklich schlecht. Aber der Geist sprach weiter.
“Ich würde mir nicht zu viele Sorgen machen. Am Ende ist es nur einen Albtraum, oder?”
Henry blinzelte und dann war er weg.
Die Uhr schien wieder zu funktionieren. Die Vögel schienen wieder zu singen.
Henry legte sich langsam hin und probierte einzuschlafen.
Probierte.