Text 05 – 2021 Winner

[Die einsamste Sprache – Louisa McDonald]

Was einst eine Sprache war, wird eines Tages zum Geräusch. Um die tausendfältigen Worte zu verbinden, mit denen wir sonst bedeutungslosen Erfahrungen eine Bedeutung geben, braucht man einen funktionierenden Verstand. Ohne menschliches Verständnis wäre alles unaussprechlich.

Am traurigsten ist, wenn eine Person, die ehemals ein Meister der Sprachkenntnisse war, die Möglichkeit verliert, sich in irgendwelcher Sprache auszudrücken. Aber an seinem Lebensabend war das für den armen alten Herrn der Fall. Der Anfang seiner Rückentwicklung war für ihn nicht allzu schlimm; zuerst konnte er nicht mehr gut laufen, aber das beunruhigte ihn nicht, er konnte fast alles machen, was er wollte, wenn er nur im Sessel saß. Danach verschwand allmählich seine Energie. Es fiel ihm schwer, stundenlang mit anderen Menschen zu sprechen, auch wenn sie ihm lieb und teuer waren; er döste oft ein, auch wenn er nicht die Absicht hatte, dies zu tun. Trotzdem war diese neue Tatsache seiner Existenz keine Unannehmlichkeit für ihn; er konnte immer noch lesen und schreiben und träumen. Träumen war ihm am liebsten; er schloss oft seine Augen und erinnerte sich an Gespräche aus spannenderen Tagen und an Stimmen, die er nie wieder hören würde. 

Aber als es ihm geschah, dass die ehemalige Macht der Sprache wie Regentropfen auf Fensterscheiben versickerte, wusste er, dass sein Leben sich dem Ende näherte. Das unausweichliche Vergessen hatte schon vor vielen Jahren begonnen, aber bis zu diesem Zeitpunkt bestand es nur aus einem gelegentlichen Verlegen eines Schlüssels, oder der peinlichenAnstrengung, sich an das Alter seines jüngsten Enkelsohns zu erinnern. Diese Vergesslichkeit wurde dennoch mit der Zeit immer beunruhigender. Manchmal vergaß er nicht nur das Alter seiner Enkelkinder, sondern auch die Tatsache, dass sie überhaupt geboren worden waren; inmanchen Nächten griff er nach seiner schlafenden Frau, nur um sich zum hundertsten Mal zu erinnern, dass sie schon seit fünf Jahren tot war. Am schmerzhaftesten war das Verschwinden der Sprache. Niemand wusste genau, wann er nicht mehr in der Lage war, Fragen zu beantworten, außer mit einem leeren Nicken; er wusste es auch nicht genau, wann ihm die Feinheiten eines interessanten Gesprächs zu einem Schauspiel von bedeutungslosen Geräuschen geworden waren, aber es stand außer Zweifel, dass ein Bestandteil seines innersten Lebens langsam wegerodierte. 

Bevor sein Gehirn begonnen hatte, wegzuschmelzen, war er Professor für Linguistik; er war einPolyglotter und konnte sich in fremden Sprachen wie ein Muttersprachler ausdrücken. Französisch, Spanisch, Englisch, Russisch, auch Lateinisch und Griechisch - er war ein Meister solcher Sprachen, sie nahmen einen Platz in seinem Bewusstsein ein. Aber keine Sprache war ihm so nahe wie seine Muttersprache, Deutsch. Mit der deutschen Sprache, hatte er immer gesagt, kann man Worte zum Tanzen bringen. Mit dieser seltsamen Aussage meinte er, dass man in der deutschen Sprache Worte zusammensetzen kann; diese Besonderheit der Sprache wurde von vielen Dichtern und Denkern benutzt, um ihre eigene Version der Realität darzustellen. Wie könnte man, zum Beispiel, das seltsame Gefühl des Bewusstseins der Existenz besser erklären als durch das Wort ‘Dasein’? Seines Wissens nach gab es keine gute Übersetzung für dieses Wort; der Begriff ist einer, der fast intuitiv verstanden wird, wenn man ihn einmal gehört hat. Mit der Verschlechterung seiner kognitiven Fähigkeiten, fühlte sich der alte Herr immer mehr, als ob er kein Dasein mehr hatte, sondern eher ein ‘Weg-sein’. Sein Körper bewegte sich automatisch, ohne dass er seine Bewegungen kontrollierte; seine Seele war irgendwoanders, weit entfernt von seinem Körper, obwohl er nicht wusste, wo genau sie war.

Wenn man sich nicht mehr gut ausdrücken kann, wenn man den Faden seines Lebens verliert und nicht mehr weiß, wie man der Welt einen Sinn geben kann, wird man zum einsamsten Menschen im Universum. Abends starrte er aus dem Fenster, die Leute auf der Straße beobachtend. Er stellte sich vor, dass sie alle genauso einsam wie er waren. Er wusste, dass jedesGesicht zu einem individuellen Menschen gehörte; er wusste, dass jeder Mensch sein eigenes Leben hatte. Aber in der Tiefe seiner Fantasie existierten diese ephemerischen Figuren nur als bedeutungslose Schatten, von denen er nichts wusste und niemals etwas wissen würde. Ehrlich gesagt ist das bei den meisten Menschen der Fall, die durch unser Blickfeld gehen, kaum bemerkt. Nur durch sprachliche Verständigung kann man das Bewusstsein einer anderen Person kennenlernen, und selbst dann bleiben die meisten ihrer Gedanken ein Mysterium. Für den alten Herrn, den die Sprache im Stich gelassen hatte, wurde die Menschlichkeit zu einer Reihe der Schatten, die ziellos durch eine einsame Welt irrten

Diese unausweichliche Einsamkeit verfolgte den alten Herrn, als die Tage sich verwischten. Die Begleitung des Pflegers, mit dem er vorher eine gute Beziehung hatte, heiterte ihn nicht mehr auf; er bemerkte es kaum, wann der Pfleger ankam und wann er wegging. Er war in der Tat nicht so anders im Verhalten wie seine Katze, die jeden Tag auf dem Teppich lag, sich mit den Pfoten waschend, und die andere um sich kümmern ließ.

Eines Tages, als er sich besser als normalerweise fühlte, nahm er ein Tuch zum alten Klavier, das von Staub bedeckt war. Als er das Instrument putzte, fühlte er sich so glücklich wie schon lange nicht mehr, er wusste nicht warumvielleicht gefiel ihm die Regelmäßigkeit der Bewegungen. Sobald das Klavier geputzt war, setzte er sich auf den Stuhl. Er erwartete nicht, dass er immer noch spielen konnte; er hatte jedenfalls fast alles vergessen, und Klavier zu spielen wärewahrscheinlich keine Ausnahme. Aber als er die Klaviertasten leicht berührte, kam ein seltsames Feuer über seine Seele. Er hatte den Namen des Stücks vergessen, aber er spielte doch eine sanfte Nokturne, die in seinem Muskelgedächtnis eingebrannt war und die sein ganzes Wesen beruhigte. Er hätte es nicht erklären können, auch wenn die Macht der Worte immer noch bei ihm blieb; für ihn war diese Musik eine Art, ohne Worte zu sprechen.

Nach diesem Tag saß er oft am Klavier und spielte; das Klavier wurde zu einem Sonnenstrahl in der Finsternis seines Lebens. Er fühlte sich nicht mehr so einsam, weil er die Begleitung der Musik hatte, um seinem Leben Rhythmus zu geben. Eines Tages kam der Pfleger und entdeckte, dass der alte Herr am Klavier saß. Amüsiert bat er ihn, ein Lied zu spielen, und der alte Mann willigte ein. Als der alte Herr spielte, sang der junge Pfleger leise, und zum ersten Mal seit vielen Monaten schienen die zwei Menschen, eine Verbindung zu haben. Sie brauchten in diesem Moment keine Worte, denn die Musik fungierte als die Sprache des Unaussprechlichen.

Nach ein paar Wochen, als das Grau des Morgens über dem Horizont flackerte, besuchte ihn seine Tochter. Sie kam ziemlich oft vorbei, obwohl ihre Besuche in letzter Zeit immer spärlicher geworden waren, und das Ritual war immer dasselbe: sie öffnete die Tür, küsste ihn zärtlich, kochte Kaffee und saß im Sessel, seinem Blick ausweichend. Früher hatten die beide Menschen geplaudert, aber natürlich war das nicht mehr möglich. Normalerweise kam sie allein zu Besuch, aber heute war ihr Ehemann dabei. Der alte Herr hatte ihn nie gemocht, aber er wusste seit langem, dass er sich in die Angelegenheiten seiner Tochter nicht einmischen sollte. Sie saßen nebeneinander und sprachen (ich will nicht behaupten, dass sie mit ihm sprachen, weil sie wussten, dass er kaum ein Wort aufnehmen konnte). Ihr Gespräch war ihm meist ein leeres Geräusch, aber als das Wort ‘Klavier’ erwähnt wurde, verstand er augenblicklich, was sie sagten: ‘Das alte Klavier...niemand benutzt es heutzutage...man soll es verkaufen, um die Löhne des Pflegers weiterzahlen zu können...was denkst du?’

Natürlich konnte er die Frage nicht beantworten, aber trotz seiner Vorliebe für das Klavier hatte er keine echte Lust, gegen ihre Entscheidung Widerstand zu leisten. Er nickte nur mit dem Kopf, eine Geste der Passivität, die jetzt zur Kennzeichnung seines Lebens geworden war. Obwohl das Klavier als eine vorübergehende Entlastung von der Einsamkeit seiner Existenz gewirkt hatte, hatte er immer in der Tiefe seines Herzens gewusst, dass die unaussprechliche Sprache der Musik eines Tages schweigen würde.

In der Nacht desselben Tages starrte der alte Herr aus dem Fenster, wie er es so oft tat. DieStraße war menschenleer, möglicherweise weil es stark regnete und niemand die unausgesprochene Herrschaft des Regens stören wollte. Als er das Trommeln der Regentropfen hörte, fühlte er sich seltsamerweise ruhig. Die Rhythmen der Tropfen auf dem Glas hallten imSchlagen seines Herzens wider, und er dachte, dass diese seltsame Musik des Regens die einsamste Sprache der Welt sein musste.

 

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