[Eine Form der Kleinkunst]
Er habe sich in der nationalsozialistischen Kultur verirrt, soll Fritz Grünbaum, Schauspieler und Kabarettist, gesagt haben als ein Stromausfall im Lokal alle Anwesenden in stockfinsterer Dunkelheit sitzen ließ.
Dies erzählte mir ein kleines Mädchen auf der stundenlangen Zugfahrt nach Graz. Sie war nicht allein, ihre Großmutter (eine heitere Frau in farbigen Halstüchern) begleitete sie. Die junge Dame war aber kaum zufrieden und runzelte die Stirn. Sie konnte sich nämlich nicht an das genaue Datum erinnern.
Es geschah natürlich in den 1930er, dem war sie sich sicher. Dennoch wollte das bestimmte Jahr ihrer Mühen entgehen und die Antwort flog an uns vorbei wie die Spitzen kälterer Tannen. Die Laute des Zuges, dieses regelmäßige Tappen und Zischen und Klatschen wurden in meinem Kopf zu den Geräuschen und Zahnrädern ihrer Gedanken. Ab und zu hätte ich einen feinen hellgrauen Rauch aus ihren Ohren steigen sehen können. In Träumen, vielleicht.
Der Rest ihres Gedächtnisses schien in perfekten Zustand zu sein. Sie sagte, dass sein Scherz –Grünbaums Scherz – wohl die Gelächter auf die Münder der Zuschauer zurückgezaubert hatte. Das einzige Bild von ihm, dass ich Jahre später fand, porträtierte ihn ohne seine liebe, runde Brille. Er fasste einen Hut, der ruhig auf seinem Kopf saß, und trug eine mit Punkten bedeckten Fliege. Die Falten auf seinem Gesicht verwandelten sich in ein Lächeln. Laut einem misshandelten Buch und dem Mädchen vor mir, war Grünbaum ein völlig verwandelter Mann, wenn er sprach. Ein Funke, ein Geistesblitz erhellte seine Wörter.
„Er war aber nicht der einzige, der die Kabaretts all über Österreich und sogar Europa lebhaft machte. Was es für Nächte waren!“ So sprach das Mädchen, während sie mit ernster aber verträumter Miene ihre Oma ansah. „Grete Wiesenthal tanzte durch ganz Wien. Das tat sie schon vor dem großen Krieg. Umhüllt von Federn, die in der Luft blitzten und kreisten. Rotschwarze Federn, roter Hintergrund. Ein reizendes Bild. Ihr Frühlingsstimmenwalzer, einfach herrlich.“
Die Kleine redete so viel. Es fiel mir leicht während der Reise nur zu nicken und zuzuhören. Die ältere Frau naschte süße Schokolade und mit Likör gefüllte Pralinen. Etwas an den beiden kam mir sonderbar vor, doch kein einziger guter Grund dafür fiel mir ein. Sie erwiesen sich dennoch als angenehme Weggefährtinnen. Ich hörte mehr von diesem Land, das ich nicht kannte. „Meine letzte Reise nach Österreich ist ach so lange her...“ seufzte das Mädchen, als endlich Slowenien hinter uns verschwand. Und als uns dann kaum eine Stunde von Graz trennte, glaubte sie einen guten Augenblick gefunden zu haben, um einige Geschichten zu Ende zu bringen.
„Grete hatte mehr Glück als Grünbaum“. Die gestrickten Kissen des Zugabteils ekelten mir, nachdem ich darauf ewig lang gesessen hatte. Der Sauerstoff war stickig. Es schien mir, wir hätten ihn schon drei Mal ein und ausgeatmet. Sogar die Stimme des Mädchens klang verschwommen, die Luft wie Meer und die Geräusche wie Wellen. Sie sprach weiter. „Fritz Grünbaum starb in Dachau. Grete leitete die Tanzabteilung der Akademie für Musik und Bildende Kunst bis 1952.“
Daraufhin gab ihr ihre Oma mit großer Entschlossenheit Recht: „Die Kabaretts verschwanden 1938... Grete versteckte aber sogar noch so Manche in ihrem eigenen Zuhause danach!“
Die Kleine lächelte kurz und schüttelte ihren langen Rock, um die Falten zu verscheuchen.
In Graz regnete es leicht und ich half den beiden Frauen mit ihrem Gepäck. Der Zug, der mich nach Wien fahren würde, verließ den Hauptbahnhof in vier oder vielleicht fünf Stunden. Ein freundlicher Polizist zeigte uns den Ausgang und ich begleitete meine neuen Freundinnen. Das Mädchen sprach immer noch, mit ihrer ernsten Art, und der Polizist grinste. Er meinte, dass die Kleine die ältere der beiden zu sein schien.
Der Abschied war kurz und fröhlich. Ich wünschte ihnen viel Erfolg, obwohl ich keine Ahnung über ihre Zukunftspläne hatte. Die Großmutter schüttete Knabbereien in meiner Tasche bis diese voll war und gab mir einen leichten Kuss auf die Wange.
„Ich werde ihr von Ihnen erzählen“, beichte mir das Mädchen, während sie auf ihre Großmutter zeigte und beide schon fast durch Pfützen und Nieselwasser davonliefen. „Ich muss mich an alles für sie erinnern, besonders an Wien, an die klitzekleinen Details und an die Feierabende an denen sie sich heimlich davonmachte, um Tänzerinnen wie Grete in den Kabaretts zu sehen. Ich habe das Gefühl, sie freut sich, all ihre Geschichten nochmal zu hören.“
Das letzte Stück meiner Reise fühlte sich außerordentlich still an. Ich lauschte der Maschine. Das Knistern brachte mich zum Denken. Im diesem Abteil saß ich alleine und so nutzte ich diese Chance, um mich hinzulegen. Aus meinem Augenwinkel konnte ich die Berge und Wälder vorbeiziehen sehen.
Als ich in Wien ankam, versumpften mache Straßen in Finsternis, die Theobaldgasse, zum Beispiel. In vielen anderen wanderten die Menschen und die Lichter knisterten. Ich war etwas enttäuscht. Wien strahlte, war aber längst nicht mehr die Stadt von der meine junge Freundin so gefühlvoll erzählt hatte. Während meiner Zeit dort irrte ich durch Straßen, bis ich eines Tages auf die Idee kam, ein Kabarett zu besuchen. Warum ich dafür solange gebraucht hatte, entging mir.
Die Spielgasse entlang, durchkreuzte ich den Haupteingang des Fledermaus Kabaretts. Drinnen hing ein Bild, ein Poster. Kein Stromausfall überrumpelte das Theater, aber ich fühlte den Drang zu scherzen, zu lachen. Im Gemälde auf der Wand wandte sich eine schöne Frau mit dem Gesicht nach oben. Kurze, dunkle Haare und ein kurzes, dunkles Kleid. Die Hände erhoben, eine Blume in der Frisur eingesteckt. Der Schal verwischte sich mit der Kulisse, gewährte der Frau die Illusion von Flügeln, und ihre Augen waren verschlossen. Und um sie herum, in der Luft wirbelnd, zahllose rote Federn.
Lovely
Lovely